Winterreise, Kunst und Klang

„Keiner mag ihn hören, / Keiner sieht ihn an“. Keiner würde meinen, dass Wilhelm Müller (1794–1827), der Verfasser dieser Zeilen aus dem Gedichtzyklus Die Winterreise, hier von sich selber sprach. Zu Lebzeiten war er ein angesehener Dichter, Philologe und Journalist, der sich allseits Gehör zu verschaffen wusste. Heutzutage hingegen hören wir Müllers Gedichte meistens in Form der kongenialen Vertonungen, die ihnen der Komponist Franz Schubert unterlegte, während der Autor von „Schuberts Winterreise“ weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Dabei lohnt es sich, den Gedichtzyklus abseits vom Einklang vertrauter Hörgewohnheiten („Am Brunnen vor dem Tore“) neu zu entdecken. Denn die Probleme und Fragen, die Müller in seiner Lyrik aufwirft, sind heute so aktuell wie damals.

Um eine solche Neuaneignung ging es in der Ausstellung „Winterreise. Kunst und Klang“, die vom 24.11.2017 bis zum 20.01.2018 in der Berliner Galerie Forum Amalienpark zu sehen war. Dort wurden die Werke von zwölf Künstlerinnen und Künstlern aus Berlin und Brandenburg gezeigt, deren Gemälde, Zeichnungen, Collagen und Skulpturen sich auf unterschiedliche Weise der Winterreise annäherten. Die Malerin Annette Gundermann etwa verarbeitete die Metapher der Winterreise in ihren Etüden als „Ausdruck einer unendlichen Suchbewegung, die alle Elemente von Traurigkeit, Abschied und Sehnsucht an sich bindet“. In Anton Schwarzbachs Pixelzeichnungen ging es indessen darum, dem „pubertären Pathos und dem Negativ-Verve der Winterreise“ nachzuspüren. „Bei der jetzigen Wiederannäherung wünschte ich mir mehrfach ein Aufbegehren. Die Kraftlosigkeit, weit entfernt von einem neu oder anders, hat dennoch für mich die eigentliche (pubertäre) Endzeit-Wucht.“

Initiator und Ausrichter des Projektes war der Verein Kunst und Literatur Forum Amalienpark. Begleitet wurde die Ausstellung durch ein ambitioniertes Programm aus Vorträgen, Gesprächen und Musik, das darauf abzielte, die Aktualität der Winterreise im Lichte verschiedener Blickwinkel und Herangehensweisen zu erkunden. Die Internationale Wilhelm-Müller-Gesellschaft beteiligte sich als Kooperationspartner an der Konzeption und Durchführung des Begleitprogramms.

Zum Jahresauftakt (5. Januar 2017) lud deren Vorstandsvorsitzender Marco Hillemann die Galerie-Besucher zu einer abendlichen Wanderung durch das Leben und Werk Wilhelm Müllers ein, eine Wanderung, die von Dessau über Berlin, Brüssel und Rom bis nach Griechenland führte – und wieder zurück. Dabei galt es, sich einen Weg zu bahnen durch den „epochalen Winter“ der Restaurationszeit, Revolutionen und Kriege, Romantik, Vormärz und Philhellenismus, begleitet von illustren Persönlichkeiten wie Napoleon und Fürst Metternich, Lord Byron, Heinrich Heine und Ludwig Tieck, vorbei an schnarchenden Bürgern und wachsamen Demagogen, stets auf der Suche nach dem verlorenen Liebchen. Für Verschnaufpausen am Wegesrand sorgte die Schauspielerin Carmen Maja Antoni. Durch ihre Lesung verlieh sie Müllers Lyrik so viel Leben, dass das Publikum sie nicht ohne eine spontane Zugabe gehen ließ. Natürlich mit Gedichten aus der Winterreise. Und natürlich mit Musik. Am Ende sangen alle gemeinsam: „Am Brunnen vor dem Tore“…

Im Mittelpunkt des zweiten Abends stand der Lyriker Yamen Hussein. In seinem jüngsten Lyrikband 3439 Kilometer verarbeitet der Dichter seine Flucht aus Syrien über den Libanon und die Türkei nach Deutschland. Im Gespräch mit Tobias Roth, dem zweiten Vorstandsvorsitzenden der Wilhelm-Müller-Gesellschaft, berichtete er ebenso von seiner „persönlichen Winterreise“ wie über sein persönliches Verhältnis zu Müllers Gedichtzyklus: „Wo beginnt die Reise, wo endet sie? Darauf gibt es keine Antwort. Homs, Damaskus, Istanbul, München – jeder dieser Orte hat mich auf seine Weise geprägt und begleitet mich auf meiner weiteren Reise. Natürlich träume ich davon, einmal in meine Heimat zurückzukehren. Aber eine Rückkehr ist eigentlich nicht möglich, denn die Orte verändern sich genauso wie die Menschen. Als Flüchtling habe ich stets Angst vor dem Vergessen. Mit meinen Gedichten versuche ich darauf zu antworten, die Erinnerung zu bewahren und eine neue Richtung zu finden.“ Am Rande des Gespräches gab es auch einige Proben aus der Lyrik Yamen Husseins zu hören, vorgetragen vom Dichter selbst und in deutscher Übersetzung durch den Berliner Schauspieler Jens Uwe Bogadtke.

Ob hörend oder lesend, auf kompositorische, poetische oder malerische Weise: die Ausstellung „Winterreise. Kunst und Klang“ konnte überzeugend vermitteln, dass der Gedichtzyklus Wilhelm Müllers auch heute nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt hat und immer wieder dazu einlädt, neu entdeckt zu werden. Freilich konnte auch diese Neuaneignung selten aus dem „schweren Schatten Schuberts“ heraustreten. Die stets gut besuchten Gesprächs- und Vortragsabende zeugten aber davon, dass sich die spätere Verschmelzung des Gedichtzyklus und seiner musikalischen Umsetzung gerade daraus ergab, dass es sich bei Schuberts Interpretation um eine besonders gültige Neuaneignung von Müllers Lyrik handelte. Doch warum sollte die Reise hier enden, warum nicht in neue Regionen vordringen? Ein Beispiel für die Vielzahl neuer Wege, die noch unbeschritten vor uns liegen, liefert abermals der Lyriker Yamen Hussein, der von seinem Plan berichtete, Die Winterreise ins Arabische zu übersetzen. Die Reise geht also weiter.

 

Marco Hillemann

(Bei diesem Text handelt es sich um die gekürzte Version eines Artikels, der im März 2018 in der ALG-Umschau erschienen ist.)

 

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