Nur Täuschung ist für mich Gewinn! Ein Interview mit dem Schatten Wilhelm Müllers
Wilhelm Müller wurde am 7. Oktober 1794 zu Dessau geboren und starb ebenda in der Nacht vom 30. September auf den 1. Oktober 1827. In den knapp 33 Jahren, die dazwischenlagen, avancierte er nicht nur zu einem der populärsten Dichter seiner Zeit, sondern auch zu einem anerkannten Wissenschaftler, Journalisten und Übersetzer. Doch obwohl die Vertonungen Franz Schuberts dem Autor der Gedichtzyklen Die schöne Müllerin und Die Winterreise zu einem außerordentlichen Nachhall verhalfen, sind bis heute viele Aspekte seines Dichtens und Lebens im Dunkeln geblieben. Die Internationale Wilhelm-Müller-Gesellschaft e.V. wurde 1994 mit dem Ziel gegründet, die wissenschaftliche und künstlerische Beschäftigung mit dem Werk Wilhelm Müllers zu fördern und die Erinnerung an ihn in einer breiteren Öffentlichkeit lebendig zu halten. Um diesem Auftrag entsprechen zu können, muss den Spuren der Müller’schen Wanderlust zuweilen auch auf abseitigen Wegen nachgespürt werden. So kam es uns kürzlich auf einer Griechenlandreise in den Sinn, den Acheron zu überqueren, um dem Geist des Dessauer Dichters im Hades einen Besuch abzustatten. Wo sonst sollte der „Griechen-Müller“ sein letztes Quartier bezogen haben? Und tatsächlich: Versehen mit deutschem Rheinwein, griechischem Freiheitskonfekt und einer Brüsseler Mädchenlocke gelang es Marco Hillemann und Tobias Roth, seinen Schatten für ein paar Momente aus dem Dunkel zu locken und in ein Gespräch zu verwickeln.
Herr Müller, wir freuen uns, Sie zu sehen!
Die Freude ist ganz auf meiner Seite! Hier unten erhält man ja nicht so häufig Besuch.
Wie lebt es sich denn so in der Unterwelt?
Ach, wissen Sie, man gewöhnt sich daran. Am Anfang fand ich es etwas öde, das Elysium. Kein Körper, kein Wein, kein Weib, kein Gesang. Mal abgesehen davon, dass uns hier kaum eine Zeitung aus der Oberwelt erreicht. Aber der Ort ist, wie Sie wissen werden, nicht unfreundlich, zumal man sich hier in einer ganz feinen Gesellschaft befindet.
Wen trifft man denn sonst noch hier unten?
Meiner Erfahrung nach sind das hauptsächlich antike Griechen, Altphilologen und sonstige Philhellenen. Einmal z.B. begegnete ich meinem ehemaligen Berliner Lehrer Friedrich August Wolf. Er stritt sich gerade mit dem Schatten Homers, weil er nicht glauben wollte, dass dieser seine Werke selbst verfasst habe. Wie Sie wissen, vertrat Professor Wolf den Standpunkt, dass die Homerischen Epen aus den Volksgesängen verschiedener Rhapsoden zusammengesetzt und erst später einem einzigen Autor zugeschrieben worden seien, was sich in der Konfrontation mit dem blinden Dichter offenkundig als Fehleinschätzung erwies. Mir war das ein bisschen peinlich. Immerhin hatte ich selbst durch die Niederschrift meiner Homerischen Vorschule einiges zur Popularisierung dieser These beigetragen. Aber das Leben ist kurz und voller Geheimnisse. Wer könnte sie alle lösen?
Das ist ein gutes Stichwort. Immerhin ist auch Ihr Leben nicht frei von Geheimnissen. So behaupten z.B. einige, dass Sie ein uneheliches Kind des Landesfürsten Leopold Friedrich Franz von Anhalt Dessau seien. Andere vermuten, dass der Gedichtzyklus Die Winterreise durch die verbotene Liebesbeziehung zu einem jüdischen Mädchen inspiriert wurde. Ja, selbst zur Ursache Ihres Todes gibt es die verschiedensten Theorien. Wie war es denn jetzt wirklich?
So viele Fragen auf einmal! Gut, die Sterblichen leben in Eile, ich verstehe. Also. Zunächst einmal verbitte ich es mir, dass Sie hier das Andenken des Fürsten Franz, dieses würdigsten aller aufgeklärten Landesväter, mit solch infamen Trouvaillen anzuschwärzen sich unterstehen. Sie kennen sicherlich den aufgeklärten Vers: „Ein Weiser prüft und achtet nicht, / was der gemeine Pöbel spricht.“ Schikaneder übrigens, er schwebt dort hinten. Meine persönlichen Liebschaften? Nun, es gibt vieles in meinem irdischen Leben, an das ich mich nicht mehr so genau erinnern kann. Ich glaube, das liegt an dem Wasser hier. Kaum dass man davon getrunken hat… [Blickt auf die Brüsseler Mädchenlocke, murmelt plötzlich vor sich her] „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, / ein verschlossener Garten, / ein versiegelter Quell.“ – [Wieder zu sich kommend] Doch wieso stellen Sie diese Frage mit solchem Raunen? Was weiß die Liebe denn von Religion, von Stand, von Herkunft? Und wenn es selbst stimmte und ich eine Tochter Israels in mein Herz geschlossen hätte, warum sollte ich mich dessen schämen? Zur nächsten Frage. Sie sprechen meine Todesursache an. Darüber wüsste ich selbst gerne mehr. Aber hier unten lässt sich darüber nicht viel erfahren. Nur eines ist sicher: Ich wäre gerne noch ein wenig länger auf der Erde geblieben.
Jetzt haben Sie gar nichts zur Winterreise gesagt. Wie biographisch ist sie denn?
Was hat das mit dem Werk zu tun? Glauben Sie denn, Sie kämen dem Dichterischen einer Dichtung näher, wenn Sie sie mit Namen und Zahlen umzäunen? Guter Mann, dann liegen doch in den Aktenschränken der Finanzverwaltung die klarsten und gehaltvollsten Dichtungen für Sie bereit!
Na gut. Aber lassen Sie uns trotzdem noch ein wenig bei Ihren berühmten Gedichtzyklen verweilen. Heute sind Die Winterreise und Die schöne Müllerin den meisten Leuten hauptsächlich in der Vertonung Franz Schuberts bekannt. Stört Sie das?
Warum sollte mich das stören? Denn in der Tat führen meine Lieder, die zu einem deklamatorischen Vortrage, wenige ausgenommen, durchaus nicht geeignet sind, nur ein halbes Leben, ein Papierleben, schwarz auf weiß, bis die Musik ihnen den Lebensodem einhaucht, oder ihn doch, wenn er darin schlummert, herausruft und weckt. In meinen lieben Liedern der Griechen habe ich deshalb vorsorglich bereits im Titel auf den Gesang hingewiesen. Und wenn Sie uns damals bei den Zusammenkünften der Dessauer Liedertafel einmal die Ehre Ihres Besuches erwiesen hätten, so wären Sie mit manch einem meiner Tafellieder für Liedertafeln durch das melodiöse Organ durstiger Männerkehlen bekannt geworden. [Fängt an zu singen] „Auf, Brüder, lösen wir den Spund, / Und machen frei den Wein! / Sein freier Geist weih unsern Mund / Zu freien Liedern ein!“ – Aber zurück zu Schubert. Sein Umgang mit dem hohen Gut der Texttreue berechtigt zu einiger Kritik. Dass er ein paar Texte aus meiner Schönen Müllerin gar nicht erst vertont hat, sei ihm noch verziehen. Aber was hat den guten Mann geritten, einen schnittigen Vers wie Die Menschen schnarchen in ihren Betten aus meiner Winterreise in das heimelige Es schlafen die Menschen in ihren Betten umzuwandeln? Hat er etwa nicht unter der Schnarchnasigkeit unserer Zeitgenossen gelitten? Oder wollte ihm ein solcher Ausdruck nicht in seine Wiener Larmoyanz passen? Wie dem auch sei. Ich will jedenfalls hoffen, dass die Popularität der bewussten Gedichte nicht allein auf ihrer Vertonung beruht.
Apropos Popularität: Der junge Heinrich Heine schrieb Ihnen einmal, dass er erst durch die Lektüre Ihrer Gedichte gelernt habe, wie man die vorhandenen Volksliedformen für die moderne Kunstdichtung produktiv machen könne. Die Ehrenbezeugung eines so berühmten Schülers macht Sie sicher stolz?
Lob ist von allen Seiten gut für die Seele. Aber nun, was hilft es mir, wenn Heine berühmt ist? Er hat sich ja nur in einem Brief an mich so geäußert und, soweit ich weiß, nicht mehr öffentlich, wie er es versprochen hatte. Zumal er sich, als ich ihn nach unserem Kennenlernen im Hades einmal darauf ansprach, nicht einmal mehr an den bewussten Brief erinnern wollte. [Mit ironischem Lächeln] Na ja, Sie wissen schon, das Wasser. Doch es freut mich natürlich, dass ein so talentvoller Dichter wie er ein paar Anregungen von mir empfangen hat.
„Das Wandern ist des Müllers Lust“, „Am Brunnen vor dem Tore“ – wenn Heine den Volksliedton Ihrer Gedichte bewunderte, so sind einige von diesen tatsächlich in den Rang von Volksliedern aufgestiegen. Wie stehen Sie zu dieser Art von Popularität?
Jetzt lassen Sie doch mal diesen Heine aus dem Spiel! Nicht seine Diagnose sollten Sie loben, sondern meine Lieder und die Empfänglichkeit der deutschen Herzen und Hirne. Indes: Popularität ist eine wichtige Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Dichtung. Die Frage ist freilich: Wann? Wann wird es populär? Ich wünschte, ich hätte schon zu Lebzeiten ein so geruhsames Verhältnis zur Zeit gehabt wie jetzt. An Volkstümlichkeit hat es mir freilich niemals gemangelt. Denken Sie nur an meine Lieder der Griechen! Es soll damals sogar deutsche Philhellenen gegeben haben, die sie in ihren Ranzen mit sich nach Griechenland trugen. Stellen Sie sich das mal vor: Ein deutscher Freiheitskämpfer lässt sich von seinen griechischen Gefährten zur zerschundenen Akropolis hinaufführen und ermahnt sie dort mit meinen Versen an die gemeinsame Aufgabe: „Lasst die alten Tempel stürzen! In uns ist der alte Geist, / Der uns einen neuen Tempel, einen ewigen verheißt.“ Wäre ich ledig gewesen, vielleicht wäre ich auch bewaffnet nach Griechenland gezogen und hätte mich dort von der Wirkung meiner Verse für den Kampf der Hellenen überzeugt. Aber eine gewisse Wirkung für die Sache der Freiheit haben sie wohl auch in meiner Heimat entfaltet. Die Popularität der zitierten Gedichtzyklen durfte ich freilich nicht mehr miterleben. Das ist schade, denn ich hätte gerne ein wenig Einfluss auf die Art und Weise gehabt, in der sie zu ihrer heutigen Popularität gelangten.
Was genau meinen Sie damit?
Keiner Dichtungsart liegt es mehr ob, als der lyrischen, zeitgemäß zu sein. Wer aber Tempel baut, und seien es auch nur Klangtempel, hat immer die Ewigkeit im Blick. Meine Lieder gehören auf die Straße. Wer sie in die vier Wände der bürgerlichen Wohnstube zwängen möchte, verkennt ihren politischen Gehalt.
Sie würden sich also – selbst in Ihren großen Gedichtzyklen – als einen politischen Dichter bezeichnen?
Ich weiß nicht, ob ich jemanden als Dichter bezeichnen würde, der kein politischer Dichter ist.
Noch einmal anders gefragt: Wäre das Politische womöglich ein Ansatz, um das sehr heterogene Spektrum an Themen, Stimmungen und Stilarten, das Sie in Ihrer Dichtung eröffnen, im Hinblick auf eine übergeordnete Einheit zu interpretieren?
Es tut mir leid, aber die Unterweltsverwaltung untersagt strikt die Beantwortung von Sinn-, Wesens- und Existenzialfragen gegenüber Sterblichen, die noch nicht gestorben sind. Konsultieren Sie doch mal einen Literaturwissenschaftler.
„Ein seltsam und bedeutend klingender Name ist eine Station auf den Parnaß hinauf. Namen wie Isidorius Orientalis, Willibald Alexis, Arthur von Nordstern, und Vornamen wie Methusalem, Melchisedek, Nimrod oder Ptolemäus sind so viel werth als zehnjährige Beiträge zu den gelesensten Zeitschriften und Almanachen, und als zwanzig lobpreisende Recensionen…“ – So schrieben Sie einmal im Literarischen Conversations-Blatt. Das klingt, als hätten auch Sie sich gerne mit einem extravaganten Namen geschmückt?
Man muss Ihnen doch sicher nicht erklären, dass diese Leute heute niemand mehr kennt? Das eine ist die Station, das andere der Berg, das eine der knallende Effekt, ein ganz anderes die anhaltende Wirksamkeit. Sie dürfen davon ausgehen, dass mir das auch schon damals bewusst gewesen ist. Aber ich bemerke schon, dass Sie die Ironie meiner Sätze gekonnt übersehen, um sie gegen mich auszuspielen. Nun, das soll Ihnen nicht gelingen: Das beste Gegenbeispiel ist doch einer meiner Namensvettern, eine meiner liebsten Gesellschaften hier im Hades, mein großer Zechgenosse Heiner Müller.
Was hätten Sie gemacht, wenn Sie nicht so früh gestorben wären?
Wer weiß, was alles möglich gewesen wäre? Vielleicht hätte ich einen Weinladen aufgemacht? Die Bibliothek von Alexandria in Dessau neu gegründet? Einen Roman geschrieben? Wäre nach Amerika gegangen? Oder doch eher griechischer Bürger geworden? Immerhin haben die guten Athener eine ganze Straße nach mir benannt. [Im Hintergrund wird lautes Geschrei hörbar] Schon wieder dieser impertinente Archäologe! Karl Otfried Müller! Krakeelt hier ständig rum, weil er zufällig das Glück hatte, in Athen begraben worden zu sein, und macht mir die Ehre des Straßennamens streitig. Da merken Sie des Verses Sinn: „Nur Täuschung ist für mich Gewinn!“ Das gilt natürlich auch für die Beantwortung Ihrer Frage. Gewonnen habe ich in meinem Leben wahrlich genug. Da muss ich es beinahe als Glück ansehen, nicht mehr jeden meiner Siege miterlebt zu haben. Warum also im Jenseits neue Pläne schmieden? Das wollen wir doch lieber den Lebenden überlassen.
Das ist eine gute Überleitung zu unserer letzten Frage. Die Internationale Wilhelm-Müller-Gesellschaft hat seit dem Oktober 2014 eine Facebook-Präsenz. Auf unserer letzten Tagung im November 2013 wurde die These aufgestellt, dass auch Sie heute ein aktiver Nutzer dieses sozialen Netzwerkes wären. Was meinen Sie dazu?
Internationale Wilhelm-Müller-Gesellschaft? Facebook? Das müssen Sie mir erklären!