BERND LEISTNER
Zur Lebens- und Schreibgeschichte Wilhelm Müllers
“[…] ach, er war ein deutscher Dichter!” Dieser Ausrufesatz findet sich in Heines “Reise von München nach Genua”; er galt dem kurz zuvor verstorbenen Wilhelm Müller.
Ein derartiges Urteil stand seinerzeit nicht allein. Dem Dessauer Autor wurden Sympathie und Hochschätzung allenthalben entgegengebracht; wenn Heine aber seine rühmenden Worte akzentuiert auf Müllers Liederdichtung bezog, so war es für viele andere durchaus dessen sehr verzweigte literarische Gesamtleistung, der sie ihre Anerkennung zollten. In nur wenigen Jahren hatte sich Müller zwar gewiss als Lyriker einen Namen gemacht, doch kaum weniger auch als Philologe, als Literarhistoriker und Kritiker, als Reiseschriftsteller, Essayist, Editor, Erzähler, Übersetzer. Und dieses Gesamtwerk beeindruckte nicht zuletzt deshalb, weil ihm eine als respektabel befundene geistige Haltung zugrunde lag: Man nahm eine engagierte Seriosität wahr und dabei den Reflex einer entschieden (politisch-)liberalen Gesinnung – und die wiederum sah man einer nationalromantischen Disposition verbunden, welche allem Nationalistischen gleichwohl abhold und sichtlich auf kulturelles Mittlertum bedacht war. Im Übrigen kam der Beliebtheit Müllers seine Wesensart zugute. Anziehend wirkten seine Geradheit und strebsame Wahrhaftigkeit, sein Talent zur Freundschaft.
Nie ganz vergessen, doch langhin stiefmütterlich behandelt
Was aber den Nachruhm angeht, so hat man Wilhelm Müller zwar nie ganz vergessen, doch langhin ziemlich stiefmütterlich behandelt. In diversen Literaturgeschichten wurde er, grob vereinseitigend, als “Griechenmüller” etikettiert; zudem setzte es sich durch, ihn als jenen nur mittelmäßigen Lyrikschreiber zu erwähnen, dessen “Schöne Müllerin” und dessen “Winterreise” einzig auf Grund der Schubert’schen Vertonungen belangvoll geblieben seien. Erst während der jüngsten Jahrzehnte zeichnete sich ein neues, die Klischeeurteile aufbrechendes Interesse ab. Bemerkbar machte sich die Lust zu einer Wiederentdeckung. Und wenn der seit 1997 in zweijährigem Abstand verliehene Literaturpreis des Landes Sachsen-Anhalt den Namen Wilhelm Müllers trägt, so erweist sich auch hieran, in welchem Maße die Erinnerung an ihn nun nicht mehr nur eine Angelegenheit einzelner Spezialisten ist. Tatsächlich steht heute die Denkwürdigkeit Müllers ganz außer Frage. Kopfschüttelnd fragen aber mag man immerhin danach, wie ein Autor, der nur knapp 33 Jahre alt geworden ist, eine literarische Lebensleistung hat hervorbringen können, die sich dem, der sich ihr zuwendet, in ihrem Umfang und in ihrer Verzweigtheit als kaum noch überschaubar darbietet.
Kindheit in Dessau
Geboren wurde Johann Ludwig Wilhelm Müller am 7. Oktober 1794 in Dessau. Sein Vater war, wie schon der Großvater, Schneidermeister; 1780 hatte er die Tochter des Schlossermeisters Johann Ephraim Cellarius, Marie Leopoldine, geheiratet. Wilhelm war das sechste Kind, das sie zur Welt brachte: das vorletzte. Zwei der Kinder waren bereits vor seiner Geburt gestorben – als er drei Jahre alt wurde, lebte keines der Geschwister mehr. Das Unglück verfolgte die Familie auch insofern, als längere Krankheit des Vaters eine finanzielle Notsituation herbeiführte. Vordem war die materielle Lage befriedigend gewesen; 1788 hatte der Vater für 1450 Taler jenes Haus gekauft, in dem die Familie fortan wohnte, und lediglich 300 Taler hatte er sich hinzuborgen müssen. Nun jedoch sah er sich gar veranlasst, Unterstützungsgesuche an den Landesherrn zu richten. Zweimal fünf Taler ließ Leopold Friedrich Franz ihm anweisen.
Der Vater überwand schließlich seine Krankheit; die ökonomische Lage konsolidierte sich. So wuchs im Weiteren das einzig verbliebene Kind zumindest nicht im Zeichen der nackten Not auf. Und nicht auf die Volks-, sondern auf die “Hauptschule” wurde der Knabe geschickt. Deren Oberklassen bereiteten aufs Universitätsstudium vor. Die Eltern strebten ihm also einen Weg zu eröffnen, der über den Herkunftsstand hinausführen sollte. Dabei scheinen sie in Hinblick auf den Sohn zwar ehrgeizig, doch nicht gängelnd gewesen zu sein. Es gibt Anzeichen für mancherlei Freiheiten, die ihm gewährt wurden. 1808 starb die Mutter. Und noch vor Jahresende heiratete der Vater ein zweites Mal: die Witwe eines Fleischermeisters. Sie brachte ein Haus in die Ehe ein – und nicht nur das Haus. Zuverlässig (und vertrauensvoll) hat der Vater dann auch des Sohnes Studium finanziert. Es spricht einiges für die Vermutung, dass er dies vor allem auf Grund des angeheirateten Vermögens durchhalten konnte.
Berliner Studienbeginn und Kriegserfahrung 1813/14
Anhalt-Dessau verfügte nicht über eine Landesuniversität. Nach bestandener Abschlussprüfung (Frühjahr 1812) musste Müller daher, um studieren zu können, das Herzogtum verlassen: Er ging nach Berlin. Seine Einschreibung an der noch jungen Berliner Universität erfolgte am 3. Juli – es scheint, als sei er, Dessau den Rücken zu kehren, sehr ungeduldig gewesen. Bis zum Beginn des Wintersemesters war noch viel Zeit; es mochte ihn die Lust getrieben haben, sich vorab ungebunden umzutun. Im Tagebuch von 1815 findet sich die Erinnerung vermerkt, dass er mit anderen zusammen regelmäßig das Vergnügungslokal “Unter den Zelten” aufgesucht habe, wo er durch die “Säle stutzerte u lorgnierte”. Zumal durch seine Bindung an die Landsmannschaft bot sich ihm rasch die Gelegenheit, das studentische Dasein, verstanden als ein der Philistrosität entgegengesetztes, halbwegs auszukosten. Als es dann aber mit dem Studieren wirklich beginnen sollte, prädominierte bald schon das politische Interesse. Die Nachrichten von Napoleons russischem Debakel trafen ein; von einer Konzentration aufs Studium konnte keine Rede sein. Gerade an der Berliner Universität schlugen die Wellen der Erregung hoch. Und nicht zuletzt etliche der Professoren taten das Ihre, die antinapoleonische Stimmung heftig anzufeuern.
Hielt Müllers Enthusiasmus sich in Grenzen? Am 10. Februar 1813 wurde in Berlin der Aufruf des preußischen Königs veröffentlicht: Er galt der Bildung eines freiwilligen Jägercorps. Und noch am gleichen Tag gab es eine den gemeinsamen Kampfeswillen bekräftigende Studentenversammlung; unverzüglich kam es zu einem Ansturm beim Rektor, wo die Abmeldung erfolgen musste. Müller freilich meldete sich erst zwei Wochen später ab. Gewiss spricht die Verzögerung nicht schlechthin für sich. Es ließe sich vermuten, dass Müller vorab Sorge trug, Geld für die Ausrüstung zu erlangen; zudem könnte er als Anhaltiner, der in preußische Kriegsdienste treten wollte, zunächst bedenklich gewesen sein und sich verpflichtet gesehen haben, in Dessau um Billigung nachzusuchen. Freilich beweist die verspätete Meldung, dass er gar nicht etwa spontan und nach Maßgabe eines puren Begeisterungsaffektes reagierte. Wenn im Übrigen aber Genaueres nicht in Erfahrung zu bringen ist, so trifft dieser Befund auch auf die Kriegszeit selbst zu. Man weiß, dass Müller einige Schlachten miterlebt hat: die bei Großgörschen (2. Mai), die am Bautzener Spreeübergang (20./21. Mai), die kleinere bei Hainau (26. Mai), schließlich die in der Nähe des nordböhmischen Dorfes Kulm (29./30. August). Gleichermaßen weiß man, dass er Leutnant wurde. Und man weiß, dass er ab Herbst 1813 an die Front nicht mehr gekommen ist: Eingesetzt wurde er im Depot zu Prag, hernach im Brüsseler Kommandanturbüro. Fast gar nichts dagegen weiß man darüber, was ihm im Einzelnen widerfuhr, in welche Situationen er kam und wie er sich in ihnen verhielt.
Erste poetische Versuche und das Geheimnis von Brüssel
Gedichte hatte er schon als Schüler verfasst. Nur selbstverständlich also auch, dass der in den Krieg Ziehende vom Verseschreiben nicht abließ. In den “Bundesblüten” von 1816 hat Müller einiges von dem, was 1813 hervorgebracht wurde, veröffentlicht: kurrenter patriotischer Furor; und auf “Herrmanns Riesenschatten” verzichtete der Barde ebenso wenig wie auf die “Franzenschädel”, aus denen man nach dem Sieg den “deutschen Trank” trinken werde. Umso bemerkenswerter allerdings, dass sich einige Gedichte, die im Lauf des Jahres 1814 entstanden sind, ganz anders gestalteten. Publiziert hat Müller diese neun Sonette zeit seines Lebens nicht; sie fanden sich im Nachlass. War es Entblößungsfurcht, was ihn zurückhielt? Jedenfalls handelt es sich um lyrische Texte, die klar als Reflexe einer Krisensituation erkennbar sind. Der hier spricht, ist ein Vereinzelter; erstmals taucht das Fremdlingsmotiv auf; artikuliert wird der Verlust umfangenen Daseins. Indessen sind die Texte entblößend und verhüllend zugleich. Das konkrete Erlebnis, aus dem sie erwuchsen, bleibt verdeckt. In Brüssel, nur dies lässt das spätere Tagebuch wissen, hat es eine Liebesbeziehung gegeben; der Name Therese fällt. Eine Frage könnte sein, ob Müller womöglich “Thérèse” hätte schreiben sollen. Nicht minder aber könnte man fragen, ob er den Namen gar dem Mädchen zugedacht habe. Jahre später schrieb er den thematisch aus der zeitgenössischen Lyrik schroff ausbrechenden Zyklus “Johannes und Esther”: “Maria möcht ich dich begrüßen, / Mein Herz hat stets dich so genannt.” Und wäre wohl auch das Anagrammatische ein Fingerzeig, die Tatsache, dass “Theres(e)” aus “Esther” sich zurechtschütteln lässt? Die Liebe zu einer Jüdin schließlich bestimmte noch wesentlich das Handlungsgeschehen der Novelle “Debora”. War es demnach womöglich so, dass Müllers deutsch-keusche Kriegermoral den Reizen eines Mädchens nicht standhielt, dem er sich hätte verweigern sollen? Und die Affäre wäre bekannt geworden? Er hätte sich angeprangert, aus den christlich-deutschen Kriegerreihen ausgestoßen sehen müssen? Als einen schimpflich Entlassenen, verwiesen auf eine trostlos winterliche Heimreise? Es war am 18. November, als Müller der Stadt Brüssel den Rücken kehrte.
Die Fragezeichen bleiben. Was immer es jedoch mit der Brüsseler Liebesgeschichte auf sich hatte, Müller trug schwer an ihr. Wahrscheinlich Anfang des Jahres 1815 schrieb er das Gedicht “Leichenstein meines Freundes Ludwig Bornemann”. Es ist der Erinnerung an den im Mai 1813 Gefallenen gewidmet – der Gleichaltrige war Mitschüler Müllers gewesen; in Berlin sowie in Kriegsdiensten hatte sich die freundschaftliche Beziehung fortgesetzt. Und als sein besseres Ich apostrophiert der Gedichtsprecher nun den Erinnerten, als denjenigen, der ihm seinerzeit die rechte, die “heil’ge” vaterländische (Kampf-)Moral vermittelt habe. Eben gegen deren Gebot freilich habe sich in ihm schließlich Teuflisches geregt: Wofür ihm der Freund noch immer stehe, es sei von ihm verraten worden. Von “Satans Übermacht” ist die Rede; und hernach heißt es: “Wohl hab ich schnell zerbrochen / Sein eisenfestes Band, / Doch hat sich schwer gerochen / An mir die Gotteshand.”
Zurück in Berlin: Liebeskummer und Studieneifer
Von Brüssel aus ist Müller zunächst nach Dessau gegangen. Dann aber tauchte er wieder in Berlin auf, sein Studium fortzuführen. Genaueres erfährt man für die Zeit ab Oktober 1815: Beginnend an seinem 21. Geburtstag, schrieb Müller Tagebuch. Da lagen die Brüsseler Geschehnisse schon ein knappes Jahr zurück; bereits die erste Notiz jedoch spielt auf sie an. Ein Brief findet sich erinnert, den der Diarist am 7. Oktober des Vorjahres geschrieben und der ihm sowie seinem Vater “manche Träne gekostet” habe. Dann heißt es: “Gottlob, dass alles überstanden ist!” Sodann noch gibt es die Aussage, dass es ihm, dem Notierenden, vorkomme, als sei er während des vergangenen Lebensjahres “von einem Kinde zum Greise oder von einem Greise zum Kinde geworden”.
Tatsächlich war nichts “überstanden”. Bereits in seiner ersten Berliner Zeit hatte Müller den Maler Wilhelm Hensel kennengelernt. Im Krieg war er neuerlich mit ihm zusammengetroffen – erst 1815 indes ergab sich eine engere Beziehung. Die wiederum brachte es mit sich, dass er im Haus der Hensels ein und aus ging; so begegnete er auch der Schwester des Freundes; und was mit dieser Begegnung anfing, war die Geschichte einer Anbetung. Luise hatte sich ganz von der neupietistischen Erweckungsbewegung des Berliner Pastors Justus Gottfried Hermes ergreifen lassen; das Leiden und die Erlösungstat Christi bestimmten ihr den Horizont einer verinnerlichten Glaubenswelt – später trat sie zum Katholizismus über. Müller liebte sie. Zugleich aber kasteite er sich; er zwang sich, in ihr die Idealgestalt einer keuschen christlich-deutschen Jungfrau zu sehen, deren Nähe läuternd auf ihn wirken müsse. Sie in reinster Reinheit lieben zu können redete sich der Tagebuchschreiber als das Ziel ein, dem er nachzustreben habe; erst wenn es erreicht sein würde, wäre er entsühnt. “Heute morgen hatte ich wieder einen Kampf mit der bösen Erdenlust in mir, den ich nicht ohne Wunden bestand.” Die Notiz findet sich unter dem 28. Dezember 1815; es gibt deren Art noch weitere. Müller muss sich, seinen “verderblichen” Trieb zu unterdrücken, entsetzlich gequält haben.
Gleichzeitig zeigte sich Müller geradezu übereifrig darauf bedacht, den Forderungen einer entschieden deutsch-vaterlandsfrommen Gesinnung Genüge zu tun. Vordem hatte sich der Student von Friedrich August Wolf begeistern lassen, dem großen klassischen Philologen. Nun indessen sprach er in einem Brief an Fouqué (5. August 1815) von einer Verführung, der er erlegen gewesen sei, von einer Verstrickung (“im Leben wie im Gesange”) ins Heidnische; er offenbarte dem Adressaten, dass er namentlich ihm für seine Errettung großen Dank schulde; und er kündigte ihm eine “Blumenlese aus den Minnesingern” an, die er zu publizieren plane – wobei er schon jetzt darum bitte, dass der Autor des “Zauberrings” ihm ein “aufrichtiges deutsches Ritterurteil” zukommen lassen möge. Entsprechend schloss Müller sich nun enger an die entschiedenen Vaterlandsromantiker unter den Professoren an; und wenngleich die klassische Philologie das Hauptfach blieb, so wandte er doch sein Interesse zumindest zeitweilig vor allem den vaterländisch-deutschen Gegenständen zu. Bezeichnend auch, dass er sich von der “Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache” angezogen fühlte. Im Sommer 1815 wurde er Mitglied. Und bereits im Oktober hatte er sich durch seinen Eifer so weit hervorgetan, dass man ihn zum “älteren Schaffner” kürte.
Einer der in der “Gesellschaft” Tonangebenden war Friedrich Ludwig Jahn. Müller ließ sich faszinieren von ihm. Unter dem 15. November 1815 heißt es im Tagebuch: “Jahn hat eine herrliche, echt deutsche Beredsamkeit […].” “Echt deutsch” war denn auch all das, was in den Sitzungen betrieben wurde. Müller bot auf der vom 11. Oktober 1815 einen Teil jener “Vorrede” dar, die er für seine “Blumenlese aus den Minnesingern” geschrieben hatte. Im Übrigen kleidete er “altdeutsch” auch seinen Leib. Was aber die Beziehung zu Wolf anging, so empfand er sich nun hin und her gerissen. Noch immer zählte er zu dessen Lieblingsstudenten; und der sich ihm zuwendende Lehrer blieb eine Gegenliebe erheischende Gestalt. Ebendieser Lehrer freilich mit seiner Begeisterung fürs heidnisch Antike und antik Sinnenfrohe stand ihm nun geradezu als undeutscher Amoralist vor Augen; und durch die ketzerischen Bemerkungen, die Wolf über das Neue Testament machte – und über die grassierende Deutschtümelei sowieso – , fühlte er sich beunruhigt und brüskiert. Wolfs Fachkollege August Böckh hatte es sich angelegen sein lassen, im Februar 1813 gar vormilitärische Übungen mit den Studenten durchzuführen: ein klassischer Philologe, den der gewandelte Zeitgeist sehr wohl zu affizieren vermochte. Und Böckh erwies sich damit auch als der Typ eines deutschen Antikeprofessors, dem die Zukunft gehören sollte. Wolf aber hatte in Kauf zu nehmen, dass er in die Isolierung geriet – ohne es in Kauf nehmen zu wollen. Ließ er auch deswegen nicht ab, den hochtalentierten Studenten Müller an sich heranzuziehen und vor ihm die “Gegenpartei” nach Kräften zu beschimpfen?
Immerhin hat sich Müller von Wolf nie zurückgezogen. Auch durch die Nähe, die der seinerseits werbende Böckh ihm gewährte, ließ er sich zu einer Abwendung nicht bewegen. Böckh lud ihn zu prominent besetzter Tafel; im Diarium finden sich Namen wie Süvern, Hirt, de Wette, Buttmann, Rühs, Schneider vermerkt. Mit etlichen dieser Namen wiederum stellte sich die Verbindung zur “Gesellschaft für deutsche Sprache” her; besonders Rühs ist hier hervorzuheben. Er war einer der Männer, die der berühmt-berüchtigten Enthüllungsschrift des Rektors Schmalz “Über politische Vereine” markig entgegneten; für die “Gesellschaft”, die er angegriffen sah, machte er geltend, dass einzig “deutsche Liebe und Treue” in ihr vorwalteten. Wenig später legte er ein Pamphlet vor unter dem Titel: “Die Rechte des Christentums und des deutschen Volkes gegen die Ansprüche der Juden und ihrer Verfechter”. Wenn aber, eine Enttäuschung für Wolf, Müllers Debüt als philologischer Autor eben nicht auf klassischem, sondern auf dem konkurrierenden germanistischen Gebiet erfolgte, so dürfte dafür vor allem der Einfluss Johann August Zeunes von Belang gewesen sein. Zeune war Stifter der “Gesellschaft”; 1813 hatte er eine Übersetzung des Nibelungenliedes veröffentlicht. Wann Müller damit anfing, sich den Minnesängern zuzuwenden und (sehr freie) Übertragungen anzufertigen, weiß man nicht genau; die ambitionierte “Vorrede” jedoch, mit der er seine Sammlung versah, ist sichtlich durch die “Gesellschaft” und namentlich durch Zeune stimuliert worden. Und nicht nur dem Minnesang galt die Abhandlung; in sie eingeschlossen finden sich Ausführungen auch zum Nibelungenlied. Im Juni 1816 hat Müller sie in erweiterter Gestalt an zwei aufeinanderfolgenden “Gesellschafts”-Sitzungen zum Vortrag gebracht.
Die Entdeckung einer neuen lyrischen Form
Noch bevor jedoch der Philologe debütierte, hatte es der Lyriker getan. In der Maurer’schen Buchhandlung zu Berlin erschienen im Januar 1816 die “Bundesblüten”. Der Band vereinte Gedichte von fünf Autoren; Georg Graf von Blankensee, Wilhelm Hensel, Friedrich Graf von Kalckreuth, Wilhelm von Studnitz waren die weiteren Beiträger; die Ensemble-Idee stand im Zeichen der Erinnerung an die zum Teil gemeinsam verbrachte Kriegszeit. In der Besprechung des Bandes, die in der “Leipziger Literatur-Zeitung” zu lesen war, wurden just die Müller’schen Texte als die misslichsten gewertet. Dem Autor wurde empfohlen, in Zukunft nur “mit denjenigen Musen, welche nicht singen, in Unterhandlung” zu treten. Tatsächlich waren seine Texte gewiss nicht schlechter als die der anderen Beiträger, sehr viel besser waren sie freilich auch nicht. Sie hielten sich an die gängigen Muster, die in der Lyrik der Befreiungskriege allenthalben anzutreffen waren, lehnten sich an die antike Dithyramben-Tradition an, an die durch Fouqué geprägte Romanzen-Mode, auch an jenes Volksliedhafte, das durch die Sammlung der Wunderhornisten Verbreitung gefunden hatte. Hinzu traten Verse in anakreontischer Manier sowie Versuche im Epigrammatischen. Eine diffuse Konventionalität machte sich geltend.
Noch in Berlin aber, und zwar 1816, geschah es, dass ihm mit seinen lyrischen Versuchen ein wirklicher Durchbruch gelang und er zu Versen fand, deren Ansatz sich schließlich als äußerst ergiebig herausstellen sollte. Dabei war es ein Gelegenheitsunterfangen, das die Richtung wies. Luise und Wilhelm Hensel hatten ihn ins Haus des preußischen Staatsrates und vaterländischen Barden Friedrich August von Stägemann eingeführt; dort bildete sich um dessen Tochter Hedwig ein Kreis, zu dem neben den Hensels und Müller unter anderen auch Friedrich Förster und der Komponist Ludwig Berger zählten; und im Spätherbst 1816 kam hier die Idee eines geselligen Liederspiels auf: Angeregt durch die Paisiello-Oper “La Molinara” sowie durch Goethes Müller-Romanzen, nahm man sich ein lyrisches Spiel mit verteilten Rollen vor, für das man sich auf eine einschlägige Fabel verständigte. Jene sehr “schöne Müllerin” sollte im Mittelpunkt stehen, die neben anderen vom Junker, vom Gärtnerknaben, vom Jäger und vom Müllerburschen umworben wird und den letzteren, weil sie sich für den Grünberockten entscheidet, am Ende in den Tod treibt. Dabei schien für die Müller-Rolle einer der Beteiligten von vornherein prädisponiert: der, dessen Name ihn festlegte. Mit den Texten aber, die er für seine Rolle schrieb, entstand zugleich der Grundstock jenes spielerisch-lyrischen Monodramas, an dem Müller dann immer weiter arbeitete und das als Zyklus “Die schöne Müllerin” schließlich Eingang fand in seinen ersten selbständigen Gedichtband: “77 Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten”.
Eine spielerische volksliedhafte Simplizität war geboten. Müller bediente die Forderung. Und wenn Ludwig Berger, der einige der im Stägemann’schen Haus vorgetragenen Stücke vertonte, entschieden auf Musikalität der Versfügung drängte, so wusste Müller auch diesem Verlangen Rechnung zu tragen. Mit alledem aber gewann er sich eine Gedichtsprache, die noch und gerade in der Weise ihres Verstellspiels eine unverlogene lyrische Ausdrucksmöglichkeit eröffnete. Als Sprecher figuriert ein intellektuell Unentfalteter; seine Welt ist eine geschichtslos in sich geschlossene ländliche Natur-Welt; seine Empfindungen bleiben reduziert auf die des Liebesverlangens und der Liebesenttäuschung. Damit aber am Spielcharakter des Vorgetragenen kein Zweifel aufkomme, hat Müller es mit einem Prolog versehen: “Ich lad euch, schöne Damen, kluge Herrn, / Und die ihr hört und schaut was Gutes gern, / Zu einem funkelnagelneuen Spiel / Im allerfunkelnagelneusten Stil […].” Als Lesepublikum steht die konventionelle Gesellschaft vor Augen; und der ihr sein Spiel unterbreitet, lässt sie vorab seine Absicht wissen, dass er sie mit dem, was er “Schlicht ausgedrechselt, kunstlos zugestutzt, / Mit edler deutscher Roheit aufgeputzt” habe, geflissentlich “amüsieren” wolle. Der Lyriker als Alleinunterhalter, der seine Kunstfertigkeit in den Dienst modischer Geselligkeitsbedürfnisse stellt: Müller kehrte diese Bewandtnis seines Spiels expressis verbis hervor. Belangvoll indes ist sein auf Gefälligkeit bedachtes lyrisches Monodrama eben dadurch geworden, dass es einen ernstlichen Untertext birgt. Es ist, wovon er handelt, die Erfahrung von Liebesentzug und existentieller Vereinsamung. So auch zeigt er auf seine Weise an, wie sehr die germanomanische Emsigkeit Müllers kompensatorisch bedingt war. Als Movens wirkte Verlorenheitsnot, jenes auf Brüssel zurückgehende Stigma, das ihm jedenfalls nach wie vor schwer zu schaffen machte. “Wohlauf zum fröhlichen Jagen!” Hier gar findet sich in bitter sarkastischer Art auf Fouqué Bezug genommen: auf dessen “Kriegslied für die Freiwilligen Jäger”. Und der beherrschend hervortretenden Jägerfarbe Grün kontrastiert bezeichnend jenes Weiß, das als Farbe des Sprechers benannt ist. Demgemäß wird das Jagdhorn, dieses poetische Hauptrequisit der deutschen Vaterlandsromantik, als ein den Sprecher quälendes Instrument bedeutet: Der es bläst, treibt ihn in die Verzweiflung, in den Tod.
Volksliedhaftes Salontheaterspiel: Müller übernahm die Rolle, die sich für ihn ergab – die Rollengedichte aber, die er schrieb, wurden ihm zu einem verfremdenden Medium, das es ihm ermöglichte, kryptisch von ureigener Noterfahrung zu sprechen. Im Typ des Müller’schen Rollengedichts ist der Autor damit auf zwiefache Weise präsent: als einer, der sich gesellschaftsbeflissen verhält, und als einer zugleich, der in der Kälte des Fremdseins existiert. So auch ist es ebendiese Differenz, wodurch sich die Gedichte wesentlich bestimmen. Ihre (verhüllte) Modernität besteht darin, dass es einen Vermittlungsversuch nicht gibt. Und lyrische Einzeltexte, noch in Berlin entstanden oder hernach, später zu Zyklen gefügt oder nicht, lassen das Nämliche hervortreten. Gewiss ist nicht jedes Gedicht hier zuzuordnen. Müller ließ nicht ab, sich auf mancherlei Weise zu erproben; und fortdauernd war er nicht davor gefeit, ins gefällig Banale abzugleiten. Wo immer aber das Gedicht als Rollengedicht ausgestellt wird und in ihm die bezeichnete Differenz sich geltend macht, gewinnt es Belang und nicht selten etwas ausgesprochen Unheimliches. Dabei wurde es vor allem die Spielfigur des Wanderers, mit der sich die betreffenden lyrischen Texte fortan verbanden.
Literarisch-journalistische Profilierungsversuche
Noch in Berlin wusste sich Müller für etliche seiner Gedichte Veröffentlichungsmöglichkeiten zu erschließen. Sein hernach so kräftig in Erscheinung tretender Publiziereifer zeigte sich an. Und besonders war Müller darauf bedacht, sich als Stammautor von Gubitzens “Gesellschafter” zu etablieren. In ihm auch brachte Müller erste Prosaversuche unter: ein Feenmärchen, einige Blumendeutungen. Zudem erprobte er sich hier als Kulturjournalist. Mit Geringem mochte er sich dabei nicht abgeben. “Oper und Schauspiel, nebst einigen Bemerkungen über das Theater im Allgemeinen und das Berliner im Besonderen”. So lautete der Titel eines umfangreichen Fortsetzungsartikels. Aufsehen erregte er insofern, als er Adolf Müllner auf den Plan rief und ein langwieriges polemisches Hin und Her auslöste. Im Übrigen bezeugte sich die Vielfalt von Müllers literarischer Betriebsamkeit auch darin, dass er im Frühsommer 1817 Christopher Marlowes “The Tragical History of the Life and Death of Doctor Faustus” ins Deutsche übertrug.
Berlin – Wien – Rom: eine unverhoffte Reise mit unerwartetem Verlauf
Da aber erreichte ihn inmitten solcher Betriebsamkeit eine unverhoffte Offerte. Der preußische Kammerherr Baron Albert von Sack hatte sich eine längere Reise nach Griechenland und in den Orient vorgenommen; und er hatte sich, damit man ihm einen wissenschaftlichen Begleiter vermittele, an die Akademie gewandt. Hier nun votierte Wolf ebenso für Müller wie Böckh, der mit der Sammlung altgriechischer Denkmalinschriften befasst war und seinem Studenten es zutraute, dass der gelegentlich einer solchen Reise einiges beizubringen in der Lage sei. Wolf indessen dürfte vor allem gehofft haben, die Reise werde Müller vom Bann der Germanomanie befreien. Es war keine trügerische Hoffnung.
Die Abreise erfolgte am 20. August 1817; der Weg führte zunächst nach Wien. Von da aus sollte Kurs auf Konstantinopel genommen werden. Wien aber war deshalb als eine längere Zwischenstation geplant worden, weil hier eine größere Zahl emigrierter griechischer Intellektueller lebte. An etliche von ihnen hatte Müller Empfehlungsschreiben in der Tasche; in Hinblick auf die Weiterreise sollte Expertenrat eingeholt werden. In der Tat öffneten sich dem Kontakt Suchenden viele Türen: Als Sendbote zumal des hochangesehenen Friedrich August Wolf wurde er überaus freundlich empfangen; und zweckdienliche Hinweise erhielt er in Fülle. Zugleich freilich wurde ihm bedeutet, dass er sich Kenntnisse im Neugriechischen erwerben müsse; unverzüglich ließ man ihm entsprechenden Unterricht zuteil werden. Indem nun aber Müller mit vielen der Wiener Exilgriechen in Verbindung kam, vermittelten sich ihm sehr intensiv auch deren politisch-ideelle Bestrebungen. Was sich auf ihn übertrug, war der gegen die türkische Herrschaft gerichtete Emanzipationsimpuls. Und jene lebhafte Sympathie bildete sich aus, die später ihren Niederschlag in den Griechenliedern finden sollte.
Die Weiterreise allerdings, zu der man am 6. November in die Kutsche stieg, führte nicht auf Konstantinopel zu, sondern nach Italien. Man hatte erfahren, dass in der Stadt am Bosporus die Pest ausgebrochen war; und der ursprüngliche Plan, über Italien zurückzureisen, wurde nun dahin gehend verändert, dass man sich entschied, die Tour in entgegengesetzter Richtung zu absolvieren. Mit in der Kutsche saß Julius Schnorr von Carolsfeld; der junge Maler, mit dem in Wien die Bekanntschaft zustande gekommen war und den es mit aller Macht nach Rom zog, wurde zum Mitfahren eingeladen. Triest, Venedig, Ferrara, Bologna. Mitte Dezember wurde Florenz erreicht. In Rom traf man am 4. Januar ein, allerdings zu zweit nur: Schnorr hatte in Florenz, wo er länger zu bleiben wünschte, sich verabschiedet. Als aber Schnorr dann seinerseits in Rom ankam, dauerte es nicht mehr lange bis zu einem anderen Abschied. Er vollzog sich zwischen dem Baron, der nach dreimonatigem Rom-Aufenthalt weiterreiste, und einem Wilhelm Müller, der in der Stadt verblieb.
Man weiß nichts Näheres über die Trennung. Kaum von der Hand zu weisen ist jedoch die Vermutung, dass eine Beziehung auseinanderbrach, der sich Homoerotisches verbunden hatte. Ein verfremdender Reflex dieser Beziehung findet sich in der Novelle “Debora”. Auch hier begleitet ein junger, in akademischer Ausbildung begriffener Mann einen reichen alten nach Italien; und was das Verhältnis zwischen beiden angeht, so ist akzentuiert von “kleinen Händeln und Zwistigkeiten” die Rede. Freilich heißt es hier zugleich, dass das “Äußerste eines feindlichen Bruches” stets vermieden worden sei: “Ihre beiden Köpfe rieben und stießen sich so lange aneinander, bis einer von ihnen die Herzen zur Entscheidung rief, welche dann alsbald statt der Stirnen, ihre Lippen zusammenführten.” Dem Eros wird also ein überbrückendes Vermögen zugeschrieben. Münzte Müller damit eine erinnerte Beziehungsgeschichte um, bei der sich die Kraft eines solchen Vermögens gerade nicht erwiesen hatte? Falls es jedoch tatsächlich so war, dass das Zerwürfnis mit erosgeschuldeten Spannungen immerhin zu tun hatte, dann würde sich auch Weiteres erklären. Nichts von dem, was in den Selbstzeugnissen steht, deutet darauf hin, dass Müller wegen seines Abspringens ein unangenehmes Nachspiel befürchtete. Und tatsächlich scheint es auch, nach der Rückkehr, nichts dergleichen gegeben zu haben. Hat er sich seinen akademischen Protektoren gegenüber mit dem Argument gerechtfertigt, er sei von dem Alten unzumutbar belästigt worden? Es wäre ein schlagendes Argument gewesen.
Römische Bekanntschaften
Gleichwohl spielte natürlich für den, der mit dem Baron nicht weiterreisen mochte, die Faszination des Ortes eine Rolle. Und in die wiederum wirkte hinein, dass bald schon ein Kontakt zur deutschen Künstlerkolonie zustande kam und Müller sich in solcher Gesellschaft sehr angeregt fühlte. Begegnungszentrum war das “Caffè Greco” bzw. “Caffè Tedesco”; man verkehrte auf die zwangloseste Weise miteinander; ältere deutsche Wahlrömer, der Idyllendichter Friedrich Müller etwa oder die Landschafter Johann Christian Reinhart und Joseph Anton Koch, waren hier ebenso anzutreffen wie jene vielen Jüngeren, zu denen Peter von Cornelius und Ludwig Vogel, Johann Friedrich Overbeck und Friedrich Wilhelm von Schadow, Philipp Veit und Karl Philipp Fohr zählten. Von letzterem stammt ein Porträt Wilhelm Müllers; der Zweiundzwanzigjährige zeichnete es, bevor er wenige Tage später im Tiber ertrank. Auch Schnorr hat Müller porträtiert – und wie andere, genau weiß man es von Karl von Rumohr, hat er ihm Geld geliehen. Müller war, nachdem er sich von Sack getrennt hatte, aufs Borgen angewiesen. Dabei drückten ihn ohnehin Schulden: Für zu schreibende Reiseimpressionen hatte er sich von Gubitz mehrere Vorschußzahlungen erbeten. Und gerade weil er sich der Eindrucksfülle, der er sich konfrontiert sah, ganz und gar hingab, fiel es ihm vorerst sehr schwer, diese durch schriftstellerische Arbeit zu begleichenden Schulden auch nur halbwegs abzutragen.
Erhalten geblieben ist ein an Gubitz gerichteter Vertröstungsbrief vom 31. Mai 1818. Zuvor war Müller für sechs Wochen in Neapel gewesen; inzwischen weilte er neuerlich in Rom. Erst im Juli aber vermochte er sich auf eine Weise zu konzentrieren, dass nicht mehr nur materialsammelnde Notizen zustande kamen: Er begann, “Briefe aus Albano” zu schreiben. Die Ortsbezeichnung benennt jenes Städtchen im Albaneser Gebirge, in das er sich aus der sommerlich heißen Metropole mittlerweile zurückgezogen hatte. Hier auch hielten sich der schwedische Schriftsteller Per Daniel Atterbom sowie der dänische Peder Hjort auf. Von Albano aus wurden Ausflüge unternommen, nach Ariccia etwa, wo man Friedrich Rückert aufsuchte. Müller soll ihm, der sich als Nichtschwimmer zu weit in den See gewagt hatte, das Leben gerettet haben.
Die Faszination Italiens
Die “Briefe aus Albano” aber, teils am Ort, teils dann noch fern von ihm geschrieben, bildeten schließlich den Grundstock für jenes Buch, das als Müllers Italienbuch einen hohen Bekanntheitsgrad erlangen sollte. Dabei wusste sich Müller, indem er über Italien handelte, auf eine literarische Tradition bezogen, in die er sich ebenso zu stellen bestrebt war, wie er sie gleichermaßen zu innovieren trachtete. Letzteres führte vor allem dazu, dass er weder ein antiquarisches noch ein rein ästhetisches Interesse zur Geltung brachte. Am ehesten knüpfte er an Seume an. Auch von dem jedoch hob er sich insofern ab, als er bei der Beschreibung italienischer Lebensverhältnisse weniger aufs Soziale rekurrierte. Was Müller beabsichtigte, war eine Art Sittengemälde; den Blick richtete er auf nationale Eigentümlichkeiten kulturellen Lebens. Er widmete sich den wahrgenommenen Bräuchen, den Volksbüchern und Volksliedern, dem Volkstheater, den Spielen, Tänzen und Festen, der Glaubenswelt und der des Aberglaubens, der Sprache, den Sprichwörtern, den häuslichen und öffentlichen Gepflogenheiten, nicht zuletzt denen einer erfahrenen Gastfreundschaft. Unverkennbar ist bei alledem ein Anti-Moderne-Affekt. Die in der Berliner Zeit verinnerlichte nationalromantische Volkstumsideologie verschaffte sich Geltung. Unverkennbar aber auch die Distanz gegenüber dem in der deutschen Künstlerkolonie dominierenden Nazarenertum. Und unverkennbar schließlich der Reflex einer politischen Gesinnung, von der aus der kirchenstaatliche Despotismus und Dogmatismus einer scharfen Kritik unterzogen wurden. Politischer Liberalismus und nationalromantisch gegründete Moderne-Aversion begegnen sich, wissen sich nicht zu vertragen, lassen das Müller’sche Italienbuch als mit sich uneins erscheinen. Jahre später war es dann Heinrich Heine, in dessen “Reisebilder” dieses Divergenz-Problem kaum minder hineinwirkte. Im Gegensatz zu Müller freilich machte er es seinem prosaistischen Ich bewusst; und was sich nicht in Übereinstimmung bringen ließ, konnte damit zumindest eine Polarität konstituieren, die sich im Zeichen von Ironie behandeln ließ. Dass aber Heine der reiseprosaistischen Vorgabe Wilhelm Müllers auch Reizvolles eingeschrieben sah, welches sich ihm schlechthin zur Nachahmung empfahl, bleibt gleichermaßen zu registrieren. Wenn etwa in Heines “Briefen aus Berlin” das Ich den gedachten Leser geradezu neben sich hergehen lässt, wenn es ihn zum Mitflanierenden macht, den es in der Stadt herumführt und sie ihm buchstäblich zeigt, dann eben verweist solch suggerierende Verfahrensart durchaus auf das Italienbuch Müllers, wo ihr in ihrer versinnlichenden Leistungsfähigkeit bereits ausgiebig zu begegnen war. “Sieh dort das bunte Schild über der Pizzikarolbude!” Zumal in solchen Passagen gelang Müller auch eine prosaistische Lebendigkeit, in der die Faszination, die ihn ergriffen hatte, adäquat zum Ausdruck kam. Und es war aber diese Faszination, die zugleich dahin gehend wirkte, dass die neuprotestantisch-deutsche Borniertheit, in deren Bann er geraten war, sukzessive von ihm abfiel. Als er schließlich seine “Briefe” zu schreiben vermochte, lag jegliches Ressentiment bereits hinter ihm; und es hatte dann auch gewiss etwas Demonstratives, wenn er den letzten der “Briefe” just von der römischen “Fremdenliebe” handeln ließ. Da stand eine deutsche Leserschaft vor Augen, von der er nur allzu gut wusste, welch “alberner” germanomanischer Dünkel in ihr grassierte. Nicht nur dieser “Zwanzigste Brief”, er jedoch besonders gibt als einen der Müllers’chen Beweggründe den der Kritik an verbreiteter deutscher Kulturideologie zu erkennen. Geschrieben aber wurde er, als die Italienreise bereits zurücklag: auf deutschem Boden.
Rückkehr nach Deutschland und Arbeitssuche in Dessau
Hinausgeschoben hat Müller die Rückkehr, solang es irgend ging. Nach dem Albano-Aufenthalt ließ er sich noch einmal in Rom nieder. Gemeinsam mit Ludwig Sigismund Ruhl reiste er sodann nach Florenz; für einige Wochen wurden hier die Zelte aufgeschlagen. Auch in Verona machte er, wenngleich kürzer, Station. So war, als er in München eintraf, bereits der November gekommen. Aus der bayrischen Hauptstadt schrieb er an Rumohr: Ein nach Deutschland Zurückgelangter teilte sich mit, den nun buchstäblich alles anfremdete. Und die empfundene Tristesse verdichtete sich insofern für ihn, als er vor der Notwendigkeit stand, sich um eine Anstellung zu bemühen. Dabei durfte er seine Erwartungen nicht hoch schrauben. Zwar konnte er Reverenzen seiner Berliner Professoren vorweisen, die angestrebte Dissertation jedoch war unverfasst geblieben. Und als er im Dezember in Dessau ankam und hier von zu besetzenden Lehrerstellen erfuhr, formulierte er nolens volens ein Bewerbungsschreiben. Die Vakanzen standen im Zusammenhang mit einer schulischen Neustrukturierung; aus der bisherigen Hauptschule sollten eine Bürger- und eine Gelehrtenschule hervorgehen. Müllers Bewerbung galt der letzteren. Die Entscheidung fiel rasch. Das Herzogliche Konsistorium erkannte dem Kandidaten eine Hilfslehrerstelle zu; das Jahresgehalt bezifferte man auf 300 Taler. Müller zögerte, sich solch drückenden Konditionen zu unterwerfen; er sah sich nach Alternativen um. Am Ende freilich mußte er sich einverstanden erklären. So war es ein deutsch-enges Hilfslehrerdasein, dem sich der aus südlich-italienischer Freiheit Zurückgekehrte schweren Herzens zu fügen hatte.
Halbwegs tröstlich indessen war, dass es mit der schulischen Umstrukturierung nur langsam voranging: Müllers Lehrpensum belief sich fürs erste lediglich auf acht Wochenstunden. Auch kam es ihm entgegen, dass ihm als Teil seiner Verpflichtungen bibliothekarische Arbeiten zugewiesen wurden. Er sollte mithelfen bei der Einrichtung einer Herzoglichen Öffentlichen Bibliothek, die aus etlichen Einzelbeständen zusammenzustellen war. Bestände aus herzoglichem Privatbesitz, aus der Sammlung des Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, aus der Bibliothek des Philanthropinums und der Hauptschule mussten vereinigt werden; hinzu kam eine umfangreiche Bücherspende, die der Kaiserlich Russische Bibliothekar Schardius, ein gebürtiger Anhaltiner, gestiftet hatte. Müller widmete sich diesen Bibliotheksangelegenheiten mit großem Engagement; und bald schon schaltete und waltete er völlig selbständig. Der so beträchtliche Einsatz freilich verdankte sich wohl nicht nur dem Interesse des passionierten Bücherfreunds, sondern auch einem Kalkül: Müller strebte danach, sich eine De-facto-Position zu schaffen, die den Gehilfen-Status früher oder später ad absurdum führen müsste.
Allerdings lud Müller sich damit eine enorme Arbeitslast auf. Von der Regalbeschaffung über den Antransport der Bücher bis hin zur Einordnung und Katalogisierung besorgte er alles und jedes: Ab Sommer 1819 gewannen die Bibliotheksgeschäfte eine Dimension, mit der er denn doch nicht gerechnet hatte. Noch im Frühjahr war ihm relativ viel Zeit verblieben. In ihr hatte er für Gubitz weitere “Briefe aus Albano” verfasst; zugleich hatte er sich, die “Briefe” verwendend, dem Buchprojekt von “Rom, Römer und Römerinnen” gewidmet. Eben hernach jedoch gab es kaum noch zeitlichen Spielraum. Und stärker eingespannt sah er sich nun auch durch die Schule. Sein Unterrichtssoll sprang auf 20 Wochenstunden. Dabei wirkte als zusätzliche Belastung, dass der neue Direktor der Schule, Christian Friedrich Stadelmann, einem strikt disziplinierenden Regime zuneigte und zumal den sichtlich ambitionierten Hilfslehrer fest an die Kandare zu nehmen suchte. Auch mit der Bibliotheksleitung wurde Stadelmann betraut; Müller bekam schroff zu spüren, dass er sich als bloßer “Gehilfe” gleichermaßen auf diesem Tätigkeitsfeld zu verstehen habe – eine Behandlung, die ihn ganz besonders kränkte. Und sie trieb ihn an, auf eine Status-Änderung entschieden hinzuwirken. Tatsächlich erreichte er, dass zu Beginn des Jahres 1820 die Zuständigkeitsfrage in Sachen Bibliothek zu seinen Gunsten neu entschieden wurde: Müller avancierte zum “Bibliothekar”. Dies freilich führte dazu, dass sich der Konflikt mit Stadelmann gar noch verschärfte. Nun erst recht behandelte der Schuldirektor den seiner Administration Unterstellten ostentativ als Hilfslehrer. Entsprechend setzte Müller im Folgenden alles daran, ein Ende nun auch diesem bedrückenden Verhältnis zu bereiten. Erlangt hat er die gewünschte Sonderregelung im Jahre 1823. Da wurde ihm von Seiten des Konsistoriums zugebilligt, dass die Disziplinargewalt des Direktors für ihn nicht mehr gelte. Der Umfang seiner Lehrverpflichtungen wurde durch eine spezielle Vereinbarung festgelegt. Den ihm verhassten “Collaborator” konnte er von sich abstreifen.
Publizistische Umtriebe
Vorerst freilich, im Herbst 1819, war an eine solche Lösung noch nicht zu denken. Und was sich als Aufgabenberg vor ihm türmte, drohte zumal alle Aussicht auf literarische Arbeiten zu nichten. Noch bevor sich die Situation so schwierig gestaltete, hatte Müller die Begründung einer Zeitschrift vorbereitet. Mit dieser “Askania” verband er den Plan, literarisch durchaus Niveauvolles zu präsentieren; Einladungen zur Mitarbeit verschickte er an eine große Zahl von Autoren. Hernach indes, als die ersten Beiträge eintrafen und die Zeitschrift (zu Beginn des Jahres 1820) ins Leben trat, vermochte er sich kaum noch auf sie zu konzentrieren. Sogar das Vorwort ließ er sich – durch Wilhelm von Schütz – zuliefern. So aber musste Müller fast froh sein, dass es sich dann rasch schon erledigte mit der Zeitschrift. Christian Georg Ackermann, sein Dessauer Verleger, ließ ihn wissen, dass noch nicht einmal 150 Exemplare pro Heft abzusetzen seien. Auf lediglich sechs Hefte hat es die “Askania” gebracht.
Wenn Müller jedoch die “Askania”, kaum dass er sie ins Leben gerufen hatte, eher stiefmütterlich betreute, so hing dies nicht nur mit seiner außerliterarischen Belastung zusammen. Kein Geringerer als Friedrich Arnold Brockhaus war auf ihn aufmerksam geworden; bereits gegen Ende 1819 hatte der Leipziger Verleger an ihm sein Interesse bekundet; und Müller fühlte sich ebenso geschmeichelt wie angespornt. Dabei sah er sich fürs erste als Italienspezialist gefragt: Für die Brockhaus-Zeitschrift “Hermes” sollte er eine Sammelrezension der wichtigsten – und nicht nur deutschen – Italienbücher verfassen. Wie ernst Müller den Auftrag nahm, geht bereits daraus hervor, dass er allein aus dem Bereich der deutschen Literatur 64 Titel berücksichtigte. Eine kritische Sichtung all dessen kam zustande, was dem eigenen Italienbuch voranging. Müller hat lange gearbeitet an dieser Rezension. Im “Hermes” erschien sie 1820/21 in vier Teilen. Insgesamt erstreckte sie sich auf fast 100 Druckseiten.
“Ich bin dieser Tage in Leipzig gewesen und von Brockhaus, dem Fürsten der deutschen Buchhändler, über die Maßen zuvorkommend aufgenommen worden.” So schrieb Müller am 18. April 1820 an Atterbom. Noch hatte er nichts geliefert, nichts von der Sammelrezension, nichts von den inzwischen zusätzlich vereinbarten Einzelbesprechungen. Gleichwohl muss Brockhaus während dieses ersten Gesprächs – und endgültig – in der Überzeugung bestärkt worden sein, dass ihm mit Müller ein Partner gegenübersaß, wie er ihn sich geeigneter kaum wünschen konnte. Unter den deutschen Verlegern zählte Brockhaus zu denen, die sich der restriktiven Beherrschung des geistigen Lebens, wie sie zumal durch die Karlsbader Beschlüsse befestigt worden war, am mutigsten widersetzten; Müller gab sich ihm als Sympathisant und Mitstreiter zu erkennen. Wenn es Brockhaus aber zugleich für geraten hielt, sein auf Liberalismus hinwirkendes verlegerisches Konzept mit taktischer Klugheit zu verfolgen, so stieß er auf Zustimmung auch hierin. Im Übrigen traf man sich in der Ablehnung jener Opposition, die sich auf beschränkte Weise deutsch-patriotisch gerierte. Darüber hinaus jedoch und vor allem imponierte Brockhaus die geistige Beweglichkeit seines Besuchers. Der vor ihm saß, erwies sich nicht nur als gebildeter Philologe, sondern auch als ein weithin bewanderter und vielseitig interessierter Homme de lettres, der wissenschaftliche Solidität und kritische Verve zu vereinen wissen würde. So freilich kam zwischen dem profilierten Verleger und dem aufstrebenden Dessauer Autor eine Zusammenarbeit zustande, die den letzteren ebenso anregte und beförderte, wie sie ihn gleichermaßen ergriff und zum literaturkritischen Vielschreiber werden ließ. Neben dem “Hermes” gehörten zu den Brockhaus’schen Unternehmungen das “Literarische Wochenblatt” (ab November 1820: “Literarisches Conversations-Blatt”) sowie das Taschenbuch “Urania”; nicht zuletzt zählte das Konversationslexikon dazu. Und Müller lieferte, verfasste Beitrag auf Beitrag; 20 Artikel von ihm finden sich zwischen Juli und Dezember 1820 allein schon im “Literarischen Wochen-” bzw. “Conversations-Blatt” publiziert. Hier handelte er über englische, altfranzösische, schwedische Literatur, über Malsburgs Calderon-Übersetzungen, über Schwabs Fleming-Edition, über eine Sammlung altrussischer Heldenlieder, über “Wissenschaftliche Institute”, über “Bibliomanie”. Nicht dass Müller über alles und jedes geschrieben hätte. Aber er schrieb über sehr vieles und Verschiedenartiges. Dabei paarte sich der publizistische Ehrgeiz mit dem Bestreben, seine schmalen Dessauer Einkünfte aufzubessern.
Inzwischen war bei Duncker und Humblot “Rom, Römer und Römerinnen” erschienen. Und die günstige Resonanz, die das Buch erfuhr, sah Müller nicht zuletzt als ermunterndes Signal für die Publikation eines ersten eigenständigen Gedichtbandes. Neben all dem anderen, das er betrieb und zu betreiben hatte, wusste er sich dem betreffenden Manuskript noch immer zu widmen; offenbar in der Sommerpause legte er an die “77 Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten” letzte Hand an. Im November 1820 wurde der Band (Impressumsangabe: 1821) von Ackermann ausgeliefert: eine Kollektion all dessen, was Müller an Gedichten der letzten vier Jahre nun noch gelten ließ. Die Probe aufs Exempel hatte in Dresden stattgefunden. Hier hatte er von den Sommerwochen 1820 etliche verbracht; namentlich durch Kalckreuth, dem er in Italien wiederbegegnet war, hatte er Kontakt zur Dresdener Literaturszene bekommen; und nach einem ersten, im Zuge der Rückreise aus Italien eingeschobenen Aufenthalt war dieser zweite erfolgt: für Müller eine erwünschte Gelegenheit zum Vortrag seiner Gedichte. Freundliche Urteile wurden ihm auf vielfältige Weise zuteil; auch Ludwig Tieck spendete Beifall. Zugleich aber soll er Kritik geübt haben: am traurigen Ausgang des “Müllerin”-Zyklus. Und Karl Förster wiederum, der die Tieck’sche Reaktion überlieferte, monierte “Prolog” und “Epilog”. Es spricht für Müllers Balancebewusstsein, dass er weder dem einen noch dem anderen Einwand Rechnung trug.
Müller und die Freimaurerei
Sehr zufrieden indes soll sich Tieck über die “Reiselieder” geäußert haben. Dabei hätten gerade sie, wenn er ihnen gründlicher nachgegangen wäre, ihn verstimmen müssen. Von Tieck ist bekannt, dass er die Freimaurerei nicht mochte – in die Müller’schen Lieder jedoch spielt Maurerisches zumindest kryptisch hinein. Einschlägige Kontakte dürften sich für Müller bereits 1817 ergeben haben. Friedrich August Wolf, der seinen nach Wien reisenden Studenten mit Empfehlungsbriefen ausgestattet hatte, war Logenbruder; und die griechischen Exilanten, zu denen Müller sich gewiesen sah, waren Mitglieder jener “Hetaireia”, die auf eine Gründung des Freimaurers Emanuel Xanthos zurückging und für deren Tätigkeit die Maßgaben maurerischer Riten eine beträchtliche Rolle spielten. Wie weit die Einblicke reichten, die man Müller damals gewährte, ist nicht zu eruieren. Im Stande der Ahnungslosigkeit verblieb er freilich keineswegs. Und das wachgerufene Interesse führte schließlich dazu, dass Müller am 11. April 1820 die Leipziger Loge “Minerva zu den drei Palmen” um Aufnahme ersuchte. Die feierliche Einführung erfolgte zwei Monate später, am 6. Juni. Nur vermuten lässt sich allerdings, dass Müller auch im März 1821 in Leipzig zugegen war, als Doktor Ipitis auftrat: Prinz Alexander Ypsilanti, der Kopf der griechischen Befreiungsbewegung und seinerseits Maurer, hatte ihn, seinen Leibarzt, auf Reisen geschickt, damit für den antitürkischen Kampf Unterstützung gewonnen werde. Doch wie auch immer: Das literarische Engagement, mit dem von nun an Müller dem griechischen Kampf sich widmete, hatte nicht zuletzt eine maurerisch gegründete Bewandtnis. Müller schrieb, nachdem ihn die Kunde vom Aufstand erreicht hatte, im Bewusstsein einer Brüderlichkeit, deren Gedanke seit seinem Wien-Aufenthalt in ihm verankert war und die sich ihm mit seinem Maurertum fest verband.
1821: Die Geburt des „Griechenmüllers“
Vor allem jedoch wurden ihm die “Lieder der Griechen” zu einem Medium, das ihm die Möglichkeit politischer Lyrik eröffnete. Als dichterische Anwälte eines streitbaren Liberalismus sah er im außerdeutschen Raum namentlich Byron und Béranger am Werk. Auf vergleichbare Weise zu schreiben war Müllers Wunsch. So aber suchte er den Zensurverhältnissen zumindest jene Chance abzutrotzen, die sich mit der Behandlung des aktuellen Griechenthemas bot: Die in Versen sich manifestierende Parteinahme für die Aufständischen sollte und konnte zugleich als Ausdruck freiheitlichen Bestrebens schlechthin gelesen werden. Und wenn sich der Zorn, der den Gedichten eingeschrieben wurde, vordergründig auf die türkische Herrschaft bezog, so gab er sich doch gleichermaßen als ein Zorn über die politischen Verhältnisse in weiteren Teilen Europas und zumal in Deutschland zu erkennen. Als der griechische Befreiungskampf losbrach, bekannten sich etliche europäische Regierungen unverhohlen zum türkischen Machtanspruch. “Hoff auf keines Herren Hülfe gegen eines Herren Fron, / Auch des Türkenkaisers Polster nennt Europa einen Thron.” Nicht nur mittelbar sprach Müller hier ein Urteil aus, bei dem er sich schließlich selbst wunderte, dass der Zensor es passieren ließ. Es handelte sich um den Dessauer Zensor. “In Leipzig wäre das wohl nicht durchgegangen.” So schrieb Müller am 18. Oktober 1821 an Brockhaus.
Nicht also bei Brockhaus, sondern bei Ackermann erschienen die ersten zehn “Lieder der Griechen”. Sie haben rasch Furore gemacht; noch bevor das Jahr 1821 zu Ende ging, machte sich eine Neuauflage erforderlich. Und Müller sah sich angespornt, weitere “Lieder” hervorzubringen. So avancierte er nachgerade zum dichterischen Protagonisten des Philhellenismus in Deutschland. Dabei dürfte auch die Tatsache, dass manches der hinfort geschriebenen Gedichte (insgesamt sechs Hefte legte er bis 1826 vor) ins Routinehafte abglitt, der Bedeutung seines Engagements keinen Eintrag tun. Eher mag der Rückgriff auf eine Bildsprache befremden, die von der politischen Lyrik um 1813 herkam: Was seinerzeit an schlimmen Rachephantasien in Bezug auf die Franzosen artikuliert worden war, fand nun auch Eingang in die Müller’schen Griechenlieder – und nur, dass an die Stelle der Franzosen die Türken traten. “[…] und ich schleudre Türkenköpfe in die Flut, / Bis gesättigt ist die Rache, bis die wilde Woge ruht.” Müller vertraute einer Sprache, mit der er zugleich die deutschen Kämpfe der Befreiungskriege erinnerte. Die Resonanz, die er gewann, hing auch mit dieser Traditionsaufnahme zusammen. Und da es ihm um solche Resonanz zu tun war, dürfte er die beziehungsvoll erinnernde Sprache sehr bewusst gewählt haben. Freilich ließ er damit geschehen, dass in die Gedichte zumindest partiell eine Ideologie eindrang, von der er sich selbst weitgehend gelöst hatte.
Literaturkritische Arbeiten
Und kein Geringerer als Brockhaus stand den Griechenliedern eher skeptisch gegenüber. In einem Brief an Müller kam ihm gar das Wort “Makulatur” in die Feder. Überhaupt wusste er die literaturkritischen Arbeiten seines Dessauer Autors weit höher zu schätzen als dessen Verse. Dies hatte etwas Verletzendes für Müller. Beleidigt indes reagierte der nicht: Unverdrossen stellte Müller die Disposition seines Leipziger Verlegers in Rechnung. Und unverdrossen bediente er sie. Dabei unterbreitete er selbst eine Fülle von Vorschlägen; noch derjenige, eine Sammelrezension über die deutsche Almanachsliteratur des Jahres 1821 zu schreiben, kam von ihm. Gerade dieses Unterfangen aber war folgenschwer insofern, als Müller dann Jahr für Jahr dieses wohl tristeste aller Rezensiergeschäfte fortführte; die Unmasse der Almanache und Taschenbücher – Müller besichtigte und beurteilte sie; und nicht mehr nur flüchtige “Streifereien” wie noch beim ersten Mal legte er schließlich vor, sondern ausgreifende, von Vollständigkeitsstreben geleitete Überblicksbesprechungen. Doch auch die Rezensionen über Platens “Lyrische Blätter” und Rückerts “Östliche Rosen” gingen auf eigenes Anerbieten zurück. Vor allem die Rückert-Kritik gab ihm Gelegenheit zu zeitgeschichtlicher Reflexion: Rückerts Wendung ins Orientalische deutete er pointiert als Ausdruck einer begreiflichen Ab-Wendung von den deprimierenden Verhältnissen in Deutschland. Wenn Müller aber auch mit dem Projekt einer “Bibliothek deutscher Dichter des 17. Jahrhunderts” an Brockhaus herantrat, so bewog ihn, der Opitz, Gryphius, Fleming, Weckherlin, die Königsberger für sich entdeckt hatte, vor allem eine ästhetische Vorliebe. Brockhaus aber hatte seinerseits spezifische Wünsche; sie bezogen sich etwa auf informierende Artikel über das literarische Leben in England, zudem auf Mitarbeit am Konversationslexikon. Vom Leipziger Verleger Enoch Richter indes sowie von den Herausgebern Johann Ersch und Johann Gruber hatte sich Müller (1821) auch noch dafür gewinnen lassen, an der “Allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste” mitzutun. Er übernahm eine Fülle von Stichwörtern zur englischen und italienischen Literatur und Kunst, selbst einige topographische Artikel.
Hochzeit mit Adelheid Basedow
Was nun all diese Arbeiten an Honoraren abwarfen, war freilich für Müller zumal deswegen unverzichtbar geworden, weil er inzwischen (am 21. Mai 1821) geheiratet hatte. Und unter Mangel durfte er seinen Hausstand nicht leiden lassen: Adelheid war die Tochter des Dessauischen Regierungs- und Konsistorialrats Ludwig Basedow (und Enkelin des Philanthropen); es galt, einige Ansprüche zu befriedigen. Dies umso mehr, als Adelheids Eltern die Verbindung ihrer Tochter nicht ohne Skepsis betrachteten; es hatte in ihren Augen manches von einer Mesalliance an sich, worauf Adelheid sich einließ. Ob aber Müller, als er um sie warb, einzig von liebendem Gefühl geleitet wurde? Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass er durch die Heirat auch an gesellschaftlichem Prestige zu gewinnen suchte. Bezeichnend, dass er an Atterbom, als er Adelheid ihm vorstellte, zuvörderst davon schrieb, seine Frau sei “die Tochter eines hiesigen Regierungsrates”. In Briefen, die er, wenn er unterwegs war, an sie richtete, nannte er sie “liebe Puppe”, “meine kleine Puppe”, “mein Herzchen”. Sie war sechs Jahre jünger als er. Knapp ein Jahr nach der Hochzeit gebar sie eine Tochter, Ende 1823 den Sohn Max. Aus ihm ist ein bedeutender Orientalist, Sprach- und Religionsforscher geworden.
Die Dessauer Liedertafel
Noch ein Weiteres kam Müllers gesellschaftlichem Prestige in Dessau zustatten. Während des Jahres 1821 wurde in der Stadt eine Liedertafel begründet. Der den Anstoß gab, war der Komponist Friedrich Schneider – man hatte ihn, der bislang in Leipzig wirkte, zum Herzoglich Dessauischen Hofkapellmeister berufen – ; und Müller avancierte sogleich zum Sekretär. Durchaus handelte es sich um einen exklusiven Kreis, dem er sich nun zugehörig wissen konnte; im ersten Jahr ihres Bestehens zählten zur Liedertafel lediglich zwölf Mitglieder; hauptsächlich entstammten sie dem höheren Beamtentum. Die Bekanntschaft Müllers mit dem Freimaurer Schneider war vorab in der Leipziger Loge zustande gekommen; bruderschaftlichem Geist, ja einer Art bruderschaftlichem Komment neigte man auch in der Liedertafel zu. Gesungen hat man weithin Bekanntes und Beliebtes, Kreutzers Uhland-Vertonungen, Chöre aus Weber-Opern. Vor allem jedoch war man um Eigenschöpfungen bemüht; und Müller, der dichterisch Fähige des Kreises, sah sich zum Hervorbringen geeigneter Texte fortwährend gefordert. Sie flossen ihm leicht aus der Feder: auf Sangbarkeit bedachte Tafellieder, die sich namentlich dem Lobpreis des Weines widmeten. Dabei entzog sich Müller keineswegs dem nationalromantischen Imperativ, dem zufolge eines deutschen Zechers Wein vom Rhein stammen musste. Bemerkenswerter jedoch ist, dass er das Reich, in dem der Wein regiert, akzentuiert als eines der Freiheit bedichtete; politisch beziehungsvoll hieß er ihn den “neue[n] Demagoge[n]“; und im so betitelten Gedicht benannte er gar die Mainzer “Bundesfeste”, in welche der Wein sich eines Tages eingesperrt finden könnte. Gewiss blieb die Frechheit der Tafellieder begrenzt. Noch in solchen Texten indes, wo freche Pointen fehlen, behauptet sich ein Freidenkertum, das den Verhältnissen der Restaurationszeit heiter die Stirn zu bieten trachtete. Nicht nur in Dessau reüssierten Müllers Trinklieder, auch andere Liedertafeln in Deutschland griffen auf sie zurück.
Blick nach Veränderungen
Wie immer nun aber Müller sich in Dessau zu etablieren vermochte, so bedeutete dies keineswegs, dass er sich mit der Stadt als Lebensort abgefunden hätte. Über Jahre hinweg hielt er Ausschau nach einer Veränderung; vor allem richtete sich der Blick auf Dresden. Die Aufenthalte dort hatten ihn viel Sympathie spüren lassen; speziell zum Dresdener Liederkreis, dem neben dem Freund Kalckreuth unter anderen Friedrich Kind und Karl Gottfried Theodor Winkler, Karl August Förster und der Graf von Loeben, Otto von der Malsburg und Karl August Böttiger, zudem Carl Maria von Weber zugehörten, bestanden freundschaftliche Beziehungen. Auch fühlte er sich angezogen durch Tieck (der zum Kreis zwar nicht zählte, mit einigen seiner Mitglieder jedoch in engem Kontakt stand). Gegenüber dem, was die sogenannten Dresdener Pseudoromantiker schrieben, verhielt er sich gar nicht etwa kritiklos. Er sah, dass Mediokrität vorwaltete; als er im Herbst 1822 “W. G. Beckers Taschenbuch zum geselligen Vergnügen” rezensierte, fand er an dem von Kind herausgegebenen Band, in dem etliche Dresdener vertreten waren, mancherlei auszusetzen; und in einem Brief an Brockhaus (17. November 1822) hieß er das literarische Dresden unverblümt ein “poetisches Krähwinkel”. Doch noch als ein solches “Krähwinkel” besaß die Stadt für ihn eine Anziehungskraft, durch die er sich nur allzu gern von Dessau hätte ablösen lassen.
Zu bieten schien sich eine Chance am Anfang des Jahres 1823. An der Königlich-Sächsischen Bibliothek war die Stelle des Dritten Sekretärs neu zu besetzen. Unter dem 5. Januar wandte Müller sich brieflich an Böttiger mit der Bitte, dass der ihm für seine Bewerbung den Boden bereite: “[…] es käme nun darauf an, dass der Oberkammerherr zu meinen Gunsten vorläufig arrektiert würde […].” Auch darauf also verzichtete Müller nicht, den Freimaurer Böttiger als mittelnden Bruder zu beanspruchen. Der zu “arrektierende” Freiherr von Friesen war ein Oberer jener “Minerva zu den drei Palmen”, in welcher Müller noch immer nur als “Lehrling” rangierte; die Logenzugehörigkeit sollte als Empfehlung geltend gemacht werden: durch einen Dritten. Müller wusste sehr gut, dass er dann, wenn er selbst an den hoch rangierenden und einflußreichen Logenbruder herangetreten wäre, sich eher kompromittiert hätte. Alle Mühen und alles diplomatische Geschick erreichten freilich das, was sie sollten, keineswegs. Die Stelle erhielt ein anderer. Und Müller blieb einzig, die Trauben, die ihm zu weit oben hingen, nun als sauer zu bezeichnen. Der Gedanke eines Wechsels nach Dresden blieb gleichwohl wach – und mit ihm die Hoffnung, es könnte noch immer eine Möglichkeit sich ergeben. Und auch fortan suchte er sich an Böttiger zu halten. Wie es in Dresden aussehe?, so fragte er ihn brieflich am 4. April 1824; und er fügte hinzu: “Hoffentlich haben Sie meine Pläne nicht vergessen.”
„Die Winterreise“
Doch auch ein anderer Plan ließ sich nicht realisieren. Im Februar 1823 wandte sich Müller an Brockhaus mit dem Vorschlag eines umfassenden Gedichtbandes. Enthalten sollte er die 77 bereits 1820 publizierten Waldhornistenlieder, dazu die bislang verstreut veröffentlichten “Ergänzungen”, außerdem die Griechenlieder sowie “eine Anzahl Gesellschaftslieder”, Epigrammatisches, “erotische Spiele, Satiren etc.”. Brockhaus indes zeigte dem Projekt die kalte Schulter. Und Müller sah keine andere Möglichkeit, als sich mit Ackermann zu verständigen, wobei er sich zugleich mit einer bescheideneren Version zufrieden geben musste. Vereinbart wurde eine Kollektion nur solcher Gedichte, die vorab vereinzelt publiziert worden waren oder auch noch gar nicht; und hinsichtlich der Titelgebung einigte man sich darauf, den Folgecharakter des Versammelten hervorzukehren: “Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten. Zweites Bändchen”. Erschienen ist dieses “Zweite Bändchen” im Herbst des Jahres 1824. Als belangvolles Zentrum enthielt es den Zyklus “Die Winterreise”.
Von den 24 Gedichten des Zyklus waren 22 bereits in Journalen publiziert worden: zwölf in der “Urania für 1823″, zehn in den “Deutschen Blättern für Poesie, Litteratur, Kunst und Theater” (13. und 14. März 1823). In Vorbereitung des Ackermann-Bändchens war es Müller nun darum zu tun, den Zyklus als Ganzes zu strukturieren; besonders dem Anordnungsproblem wandte er viel an Überlegung zu. Und eine höchst sorgfältige künstlerische Durchformung des Ganzen war ihm starkes Bedürfnis nicht zuletzt deswegen, weil sich das lyrische Monodrama weit deutlicher noch als bei der “Schönen Müllerin” auf Biographisch-Empirisches bezog. Denn was der lyrisch-monodramatischen Gestaltung “wirklich” zugrunde lag und zu ihr drängte, war – kaum fraglich – ebenjene Winterreise, die gegen Ende des Jahres 1814 tatsächlich stattgefunden und sich in die Erinnerung stigmatisch eingesenkt hatte. Dabei verband sich diese Gestaltung mit der “Schönen Müllerin” insofern, als sie sich an das seinerzeit erprobte volksliedspielerische Konzept anschloß. Gewiss verzichtete Müller diesmal auf eine ironisch brechende Rahmung; und auch einer typisierend ausgewählten Personnage von Mit- bzw. Gegenspielern ermangelt es. Gleichwohl findet sich – wiederum – ein Rollen-Ich figuriert; seine Sprache bestimmt sich durch die kurrente volksliedhafte Simplizität; und neuerlich also verstand sich der Autor zu jenem Spiel, das modischen ästhetischen Erwartungen der konventionellen Gesellschaft entsprach und danach strebte, ihnen Genüge zu tun.
Dabei tritt die Differenz auch in der “Winterreise” deutlich hervor; und dadurch bedingt, dass im Gegensatz zur “Schönen Müllerin” kein festes Figurenensemble mehr präsent ist, macht sie sich gar noch schroffer bemerkbar. Denn was sich in den Texten mitteilt, ist die Trostlosigkeitserfahrung existentieller Einsamkeit schlechthin; nur zeichenhaft gibt es in ihnen jene Liebste, mit der sich dem Ich kaum anderes noch verbindet als wahrgenommener Trennungsschmerz. Entsprechend ist Trennung kein Vorgang, der sich im Verlauf des Zyklus erst vollzöge; das Bewusstsein, im Getrennten zu leben und leben zu müssen, ist von Anfang an präsent. Und wenn das Ich von Erinnerung: von der Erinnerung eines Glückes spricht, so ist ihm gegenwärtig, dass selbst dabei de facto Geschiedenheit waltete; der Locus amoenus war kein anderer Ort als der, an dem ein von Sehnsucht Beherrschter seinen Träumen sich hingab: In die Rinde des Lindenbaums ward “manches liebe Wort” geschnitten, nicht jedoch vermag sich mit ihm eine Erinnerung an Liebe zu verbinden. “Ich bin zu Ende mit allen Träumen – “: In der heimeligen Weise des Volkslieds handelte Müller vom Elend einer Existenz, der sich kein Halt bietet; das Ich hat sich von jeglichem Anflug einer Heimatsuche verabschiedet – und just aber gegen Ende findet sich ein “Frühlingstraum” aufgezeichnet. Dieser Traum nun als der eines Fremdlings, dem alle Träume sich ausgeträumt haben: Noch zu derartigen – gegründeten – Paradoxien stößt der Zyklus vor. Und von arger Wahrhaftigkeit ist er auch insofern, als er keine Wanderung zum Tode beschreibt. Wie es eine Erlösung durch Liebe nicht gibt, so gleichermaßen nicht durch den Tod. Der Wanderer weiß als seine Perspektive, in der Kälte fort- und fortleben zu müssen. Nicht auf den Sensen-, sondern auf den “Leiermann” richtet sich schließlich der Blick. Der in eisiger Kälte endlos seine Leier Drehende wird als Bezugsfigur erkannt.
So aber gedieh die “Winterreise” zu einem lyrischen Zyklus von erstaunlicher künstlerischer Signifikanz. Er lässt sich auch kaum nur als zeittypisches Exempel einer poetischen Literatur fassen, für die das Jean-Paul-Wort vom “Weltschmerz” die Bezeichnung hergab. Vielmehr erweist er sich als frappanter lyrischer Ausdruck eines von jeglicher Illusion befreiten Moderne-Bewusstseins schlechthin; was sich im Gewand einer vormodern-poetischen Sprachtraulichkeit darbietet, ist unheimlicher Reflex grundlegender Fremdheits- und Verlorenheitserfahrung. Keineswegs jedoch Wehleidigkeit prädominiert die Texte: Sie bestimmen sich durch das Wissen, dass das Trostlose ausgehalten werden muss.
Publizistische Überanstrengung
Als das zweite “Waldhornisten”-Bändchen erschien, lag eine andere Buchpublikation, auf die Müller nicht weniger Mühe und jedenfalls viel Zeit verwandt hatte, bereits vor: die “Homerische Vorschule”. Dabei handelte es sich um ein Projekt, das er ganz im Banne der Erinnerung an Friedrich August Wolfs Homer-Kolleg in Angriff genommen hatte; es schloss sich an Wolfs “Prolegomena” an. Nicht aber Textkritik war Müllers Anliegen, sondern ein Antwortversuch zu der Frage, wie die einzelnen Gesänge der “Ilias” und der “Odyssee” wohl zustande gekommen sein mögen und wie sich das Verhältnis bestimme, in dem sie zueinander stehen. Heinrich Brockhaus, der nach dem Tod seines Vaters (August 1823) an die Spitze des Leipziger Verlags getreten war und sich bemühte, die Zusammenarbeit mit Müller fortzusetzen, war auf die Projekt-Offerte ohne weiteres eingegangen; im Juli 1824 wurde das Buch gedruckt. Ein Vorab-Exemplar, das Müller eiligst anforderte und gesondert binden ließ, überreichte er dem, der sich das Buch wohlwollend hat widmen lassen: dem Dessauischen Herzog. Wenige Wochen später, im August 1824, konnte Müller sich Hofrat nennen. Regisseur im Hintergrund dürfte der Schwiegervater Basedow gewesen sein.
Das Ausmaß all dessen, was Müller sich fortwährend abverlangte, forderte freilich nicht nur dahin gehend seinen Tribut, dass mancher Text des Literators und Kritikers eher flüchtig geriet, sondern auch insofern, als sich dem noch nicht Dreißigjährigen körperliche Beschwerden bemerkbar machten. Nach Abschluss des Homer-Buches gönnte er sich – wieder einmal – eine Dresden-Reise; und er nutzte die Gelegenheit, im Plauen’schen Grund ertüchtigende “Stahlbäder” zu nehmen. Gleichwohl kam es ihm nicht in den Sinn, mit seinen Kräften fortan hauszuhalten. Vielmehr lud er sich immer noch Neues auf. Und wenn es weiterhin Brockhaus war, als dessen Stammautor er sich unausgesetzt gefordert sah und selbst forderte, so strebte sein Ehrgeiz zugleich nach publizistischer Präsenz auch andernorts. Weder auf seine Autorschaft im “Gesellschafter” wollte er verzichten noch auf die in der “Zeitung für die elegante Welt” oder in der Halleschen “Allgemeinen Literatur-Zeitung”; und wichtig genug erschien es ihm schließlich, dass auch ein Kontakt mit Cotta zustande kam. Erstmals im September 1823, dann regelmäßig veröffentlichte Müller im “Morgenblatt für gebildete Stände”; später wurden zudem die “Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik” beliefert. Bei alledem spannte sich, was die behandelten Gegenstände betraf, der Bogen immer weiter. Abgesehen von den Jahr für Jahr fertigzustellenden Sammelrezensionen zur Taschenbuch- und Almanachsliteratur, handelte Müller über Scott und Willibald Alexis’ “Walladmor”, über Dante und Dante-Übersetzungen, über Béranger, Delavigne und Lamartine, er unterbreitete “Belustigungen aus der deutschen Literaturgeschichte des siebenzehnten Jahrhunderts”, schrieb über die Klopstock-Jubiläumsfeier, besprach serbische und neugriechische Volkslieder, verfolgte die “neueste lyrische Poesie der Deutschen”, wandte sich – und immer wieder – Byron zu. Und was damit jedenfalls als denkwürdig erscheint, ist die beträchtliche literaturkritische Weltoffenheit, die Müller sich angelegen sein ließ – wobei sich diese mit ästhetischem Urteilsvermögen ebenso verband wie mit jener liberalen Gesinnung, von der aus Byron oder auch Béranger den Deutschen auf eine sehr bestimmte Weise anempfohlen wurden. Der große biographische Byron-Essay, den er nach dem Tod des Lords in Angriff nahm, kann hierfür als exemplarisch gelten. Nicht die melancholische Sympathie eines von Weltschmerz Erfassten lenkte den Text, sondern ein Interesse, das der Byron’schen Aufbruchsenergie, seiner vitalen Widersetzlichkeit galt. Der im stockenden und stickigen Deutschland nach Emanzipation Verlangende, dabei an eine biedermännische Existenz Gefesselte sah in Byron nachgerade ein Wunsch-Ich. Unter den Zeugnissen deutscher Byron-Rezeption der zwanziger Jahre nimmt sich der Müller’sche Essay keineswegs als ein dem Üblichen verhafteter Text aus.
Ähnlich wie dieser Byron-Essay – er erschien 1826 in der Brockhaus’schen Reihe “Zeitgenossen” – war auch die Übersetzung der in Frankreich von Claude Fauriel herausgegebenen “Neugriechischen Volkslieder” ein von Müller mit großer Neigung betriebenes Projekt. Zur ernstlichen Bürde indes wurde ihm jenes Doppelpensum, das er im Laufe des zweiten Halbjahres 1825 auf sich lud. Zum einen handelte es sich dabei um seine Zusage an Brockhaus, in Hinblick auf die geplante Neuauflage des Konversationslexikons einen beträchtlichen Teil der Artikel über Literatur zu revidieren. In sehr vielen Fällen lief diese Tätigkeit auf nichts anderes als auf ein Neu-Schreiben hinaus; ca. 70 eigene Artikel brachte Müller bis Ende 1826 aufs Papier; trotz aller zeitlichen Bedrängnis konnte er sich nicht dazu verstehen, einen vorliegenden Artikel, wenn der ihm unzulänglich schien, nur mehr notdürftig zu überarbeiten. Zum anderen aber ließ sich Müller gegen Ende des Jahres 1825 auch darauf noch ein, als Sektionsleiter der “Allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste” tätig zu werden. Seit Jahren hatte er das Unternehmen als Beiträger beliefert. Nun war er, zusammen mit Johann Georg Heinrich Hassel, verantwortlich für eine ganze Sektion. Er musste Autoren gewinnen, koordinieren, auf die Einhaltung von Terminen drängen, umfangreiche Redaktionsarbeit leisten. Und wiederum blieb in etlichen Fällen nichts anderes übrig, als dass er sich selbst als Autor beanspruchen musste.
Die Novellen
Noch dazu aber trieb es Müller, sich nebenher als Novellist zu erproben. Das Genre war en vogue geworden. Nicht zuletzt das Taschenbuch- und Almanachswesen beförderte die allgemeine Hinwendung zu einer Erzählprosa, die, bei spannungsvollem Handlungsverlauf, von minderem Umfang war als ein Roman und auch von einer im Vergleich zur Lyrik weit größeren Lesergunst getragen wurde. Den Almanachskritiker Müller musste es, sich selbst novellistisch zu betätigen, nachgerade reizen. Und anregen ließ er sich vor allem durch Tieck – wie er in ihm denn auch einen Präzeptor sah, der in Hinblick aufs Strukturelle den rechten Weg weisen konnte. Noch bevor er an die Ausarbeitung seiner ersten Novelle ging, besprach er sich sehr gründlich mit dem geschätzten Fachmann; und tatsächlich fällt es nicht schwer, in der 1825 geschriebenen Novelle “Der Dreizehnte” etliche Gestaltungszüge aufzufinden, die an Tieck’sches deutlich gemahnen. Die erzählerische Inszenierung einer – ironisch vergegenwärtigten – geselligen Runde ist ebenso signifikant wie deren Konfrontation mit einer nicht alltäglichen Geschichte, die gehörig Unerwartetes in sich birgt. Freilich sind es gar mehrere jähe Wendungen, die Müller dieser Geschichte verschrieb. Und deren spezielle Faktur entfernte sich vom Tieck’schen Vorbild deutlich insofern, als sie sich sichtlich an der modischen Schicksalsdramatik orientierte. So stand denn der im übrigen nicht sonderlich geschätzte Adolf Müllner kaum weniger Pate als der Meister zu Dresden; entsprechend finden sich Trivialpathetisches und Ironisches gleichermaßen vor; und das überschwängliche Lob, das Tieck dem Autor gezollt haben soll, nimmt einigermaßen Wunder. Auch im Kompositorischen und Erzählperspektivischen gibt es – neben geschickten Lösungen – unverkennbare Misslichkeiten. Hat Tieck mit freundlicher Konzilianz über sie hinweg geurteilt?
Die Novelle erschien in der “Urania”. Und Zuspruch kam nicht nur von Tieck. Als Novellenautor konnte sich Müller nun geradezu umworben sehen. Er nutzte dies, um Brockhaus sanft unter Druck zu setzen; für seine zweite Novelle erwarte er, so ließ er ihn wissen, eine deutlich großzügigere Honorierung. Dabei verwies er seinen Leipziger Verleger auch darauf, dass er mit dieser zweiten Novelle gegenüber der ersten etwas “viel Bedeutenderes” liefere. Freilich dürfte “Debora” – die letzten Manuskriptseiten wurden im Februar 1827 nach Leipzig expediert – dem “Dreizehnten” nur insofern überlegen sein, als der Text mit strukturierender Raffinesse gefügt ist und kompositorische oder perspektivtechnische Mängel kaum mehr auszumachen sind. Auf kluge Art gerecht wird er zumal jenen Erfordernissen, die sich für den Autor mit der disponierten Verzahnung von Gegenwartsgeschehen und Stück um Stück zu enthüllender Vorgeschichte verbanden. Rasch hatte Müller eine arrangierende Fertigkeit erlangt, die noch immer zu frappieren vermag – zugleich allerdings auch anzeigt, dass, falls es hätte geschrieben werden können, fortan gehörig Perfektionistisches zustande gekommen wäre. Bei all diesem Differentiellen tritt indes nicht weniger auch eine deutliche Verwandtschaft mit der ersten Novelle hervor, und zwar dadurch, dass sich wiederum eine Orientierung am Schicksalsdrama zu erkennen gibt. Schicksalhafte Verkettung auch neuerlich – und nur, dass die Handlung reicher ist an fremden Schauplätzen, an historischen und religiösen Bezügen, an exotisch-abenteuerlichem Kolorit. Für die Ausgestaltung des unheilvollen Gesamtgeschehens – die unglückselige Liebesgeschichte eines alten Marquis findet in der des Jünglings Arthur gleichsam ihre Vollendung – müssen Französische Revolution und spanische Inquisition ebenso herhalten wie römisches Karneval, Ghettoszenerie und Pogromfanatismus. Einer brechenden Ironie aber, die sich im “Dreizehnten” immerhin Geltung verschafft hatte, wurde nun ein Spielraum nicht mehr eröffnet. Besonders damit hängt zusammen, dass die gewiss geschickter konstruierte “Debora” komplett in eine Trivialität einmündete, der die durchaus defektbehaftete Debütnovelle denn doch partiell entzogen geblieben war.
Gesundheitsprobleme und Kuraufenthalte
Geschrieben hat Müller die Novelle bei nun schon ernstlich geschädigter Gesundheit. Seit 1824 hatten sich die Beschwerden sukzessive verschlimmert. Sie eher als lästig betrachtend, neigte er allerdings dazu, sie möglichst zu ignorieren; im Übrigen suchte er, die physische Konstitution bei Gelegenheit seiner Reisen zu kräftigen. Im Sommer 1825 folgte er einer Einladung des Stralsunder Schriftstellers Adolph Friedrich Furchau, mit diesem die Insel Rügen zu besuchen; von der Seeluft und von ausgiebigen Reittouren versprach er sich eine heilsame Wirkung. Nach den Rügen-Tagen sei er “gesund und gestärkt” in Stralsund wieder eingetroffen, schrieb Müller am 7. August an seine Frau. Hernach indes, im Winter, war es ein schwerer Keuchhusten, der sich von den Kindern auf ihn übertragen hatte und durch den sich sein Gesamtbefinden neuerlich verschlechterte. Der Herzog stellte ihm fürs Frühjahr eine Wohnung im Sommerschlösschen Luisium zur Verfügung. Und gemeinsam mit dem Herzoglich-Anhaltischen Kammerherrn Ulrich Heinrich Alexander von Simolin reiste er im Juli 1826 zu einem Kuraufenthalt nach Franzensbad. Er ließ wissen, dass ihm der Brunnen “vortrefflich” bekomme; zugleich beklagte er sich freilich über den vertanen Ferienmonat: Weit lieber hätte er ihn in Dresden verbracht oder für die seit längerem geplante Rheinreise genutzt. Sich halbwegs zu entschädigen, fuhr er nicht geraden Weges nach Dessau zurück, sondern über die Jean-Paul-Orte Wunsiedel und Bayreuth; in Weimar wurde Goethe besucht. Hier auch, in der thüringischen Residenz- und Musenstadt, wurde ihm ein Ersatz für das zuteil, was ihm an Erwünschtem vor allem sonst in Dresden widerfuhr: In Fülle gab es “Komplimente, Ehrenbezeugungen u Einladungen”. Als er in Dessau ankam, hatte seine Frau inzwischen die neue, größere Dienstwohnung eingerichtet. Mit gestärkter Spannkraft ging er an die Arbeit. Und zugleich trieb diese Spannkraft ihn dazu, sein nun Raum bietendes Haus einer musischen Geselligkeit zu öffnen. Als Muster dienten ihm die Tieck’schen Leseabende.
Freilich hielt die regenerierte Leistungsfähigkeit nicht vor. Im Lauf des folgenden Frühjahrs machte sich eine erneute Verschlechterung des körperlichen Zustands bemerkbar; am 1. Juli schrieb er an Brockhaus, dass er vierzehn Tage lang “teils bett- teils sofa-lägerig” gewesen sei; wiederum wurde vom Arzt ein Kuraufenthalt empfohlen. Müller indes, der die sehnlichst erwünschte Rhein- und Schwabenreise nicht ein weiteres Mal aufschieben wollte, wusste diesen Arzt schließlich dahin gehend zu bestimmen, dass der sich mit dem Gegenvorschlag seines Patienten einverstanden erklärte. Ende Juli brach Müller – vom Herzog hatte er unbegrenzten Urlaub erhalten – zusammen mit seiner Frau nach Frankfurt auf. Von da aus begab man sich rheinabwärts bis Köln; sodann wurde die nationalromantisch geheiligte Stromstrecke aus entgegengesetzter Perspektive genossen. Und über Heidelberg, Karlsruhe, Baden-Baden, Straßburg reiste man hernach ins Schwäbische. In Stuttgart erwies sich als herzlicher Gastfreund Gustav Schwab; man traf mit Uhland zusammen, mit Hauff, Matthisson, Haug, Wolfgang Menzel. Auch Kerner in Weinsberg wurde besucht. Und die Rückreise führte neuerlich über Weimar; am 21. September sprach man bei Goethe vor. Vier Tage später die Ankunft in Dessau: Unterwegs gewesen war man insgesamt acht Wochen.
Das Reisetagebuch belegt die Strapazen, die Müller sich zugemutet hatte: anstrengende Fahrten mit dem Postwagen, ein beträchtliches Begegnungs- und Besichtigungspensum, Gastereien. Auch die Last zu besorgender Enzyklopädie-Geschäfte war mit auf die Reise genommen worden. Von ihr nach Hause zurück kehrte ein völlig Erschöpfter. In Stuttgart hatte Gustav Schwab, als Müller am 4. September bei ihm eintrat, ein Erschrecken zu verbergen: “Mit Mühe fand ich in den feinen, aber bleichen und kränklichen Zügen das jugendliche Bild wieder, wie es seit 12 Jahren von ihm in meiner Phantasie lebte. Es brauchte einige Secunden, bis ich ihn erkannte, ich mußte ein wehmüthiges Schmerzgefühl unterdrücken und war recht ängstlich freundlich […].” Und als einen überreizt Reagierenden hatte man ihn in Weinsberg empfunden. Auch in Weimar, so darf man schließen, war jenem Goethe, der nach der Begegnung das Wort “unangenehme Personnage” fallen ließ, ein sichtlich Überanstrengter gegenübergesessen. Nicht aber noch während des strapaziösen Unternehmens selbst kam es zum Infarkt, sondern erst nach seiner Beendigung. Dabei soll Müller sich tagsüber an diesem 30. September 1827 ungewöhnlich wohl und heiter gefühlt haben. Früher als sonst indes sei er zu Bett gegangen; und übermächtig, so Adelheids Bericht, habe er geschnarcht. Er starb noch vor Mitternacht. Sieben Tage später wäre er 33 Jahr alt geworden.
Wilhelm Müller: So zieh ich meine Straße. Ein Wilhelm-Müller-Lesebuch
Hrsg. von Maria-Verena Leistner. Halle (Saale): projekte verlag 2002.
ISBN 3-931950-66-2; Überarbeitung für die Seite der IWMG: Marco Hillemann (2016)